2022 rief der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine eine „Zeitenwende“ aus. Gemeint war vor allem eines: Die Einrichtung eines 100-Milliarden-Euro-Sondervermögens für die Bundeswehr und dessen Verankerung im Grundgesetz. Doch was sich seitdem in Deutschland und Europa vollzogen hat, ist nicht nur eine neue Militarisierung von Politik und Diskurs – zuletzt weiter befeuert durch die Forderung des US-Präsidenten nach einer Erhöhung der Nato-Verteidigungsausgaben aller Mitgliedstaaten auf 5% des Staatshaushalts –, es ist eine Zeitenwende ganz anderer Art.
Die Zeitenwende ist die der Einwilligung einer erschöpften europäischen Gesellschaft zum rasanten Backlash. Lange haben wir uns durch Begriffe wie Normalisierung eine Harmlosigkeit eingeredet und dabei nicht kommen sehen wollen: Antisemitismus, Rassismus, Frauen- und Queerfeindlichkeit, Autoritätshörigkeit, Demokratieverachtung wurden nicht nur normalisiert, sie sind mittlerweile Ausdruck von Volkes Wille.
Die AfD in Deutschland, der Rassemblement National in Frankreich, die Fratelli d’Italia in Italien, die Partij voor de Vrijheid in den Niederlanden, Prawo i Sprawiedliwość in Polen, Chega! In Portugal, Vox in Spanien, Fidesz in Ungarn – sie alle stehen in den europäischen Parteiensystemen für eine Zeitenwende, die längst eingetreten ist. In ihren jeweiligen Ländern und im europäischen Parlament leben sie ihre Homogenitätsfantasien aus und sind längst demokratisches Abbild der Vision eines neuen antieuropäischen Europas geworden. Sie alle sind Teil eines Backlashs, einer rasanten gesellschaftlichen Entwicklung, die schwer errungene gesellschaftliche Fortschritte zunichtemacht. Schienen sich große Teile der europäischen Zivilgesellschaft noch vor wenigen Jahren einig, dass die Zukunft unserer europäischen Gesellschaft von Pluralität, von Vielfalt, Inklusivität, von Partizipation und Liberalität geprägt sein muss, ist diese Vision der aktuellen Zeitenwende zum Opfer gefallen. Die daraus resultierende gesellschaftliche Polarisierung ist dabei weniger ein Kampf zwischen links und rechts, sondern eine kleinteilige Entsolidarisierung verschiedenster gesellschaftliche Akteure.
Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik sind mit dieser Zeitenwende des gesellschaftlichen Backlashs untrennbar verbunden. Durch das Erinnern an historisches Scheitern von Menschlichkeit, an Zerstörung, an Verbrechen, Krieg und Leid, soll gesellschaftliches Lernen ermöglicht werden. Immer mit dem Ziel vor Augen, die Gegenwart so einzurichten, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt. Erinnern soll also Methode eines Einübens von Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Solidarität sein. Das ist die gesellschaftliche Funktion von Erinnern, zumindest wenn man die immer wieder beschworene Parole „Nie Wieder“ wörtlich versteht. Die Tatsache, dass die Realität sich zunehmend einem „Immer Wieder“ annähert, wirft die Frage auf, was von diesem Versprechen der letzten Jahre eigentlich noch übrig ist. Eine Frage, die für diskriminierte Gruppen in der Gesellschaft auch eine Frage des Überlebens ist.
Aus dieser Krise des Vertrauens in die Erinnerungskultur, die auch eine Krise der Fähigkeiten der Erinnerungskultur selbst ist, die Wiederholung der Gewaltgeschichte zu verhindern, ergibt sich: Der Zeitenwende des gesellschaftlichen Backlash muss eine neue Erinnerungskultur der widerstendigen Zivilgesellschaft folgen. Eine Erinnerungskultur, die Ausdruck eines Willens zur Gestaltung wird, notfalls gegen eine zunehmend autoritärere Politik. Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Solidarität: Das sind keine Ziele gesellschaftlichen Konsens; es sind die Eckpfeiler eines neuen Widerstands. Diesen Widerstand der pluralen Demokratie organisieren wir auch mit den Mitteln der Erinnerungskultur.
Am 14. März 2025 wird sich die Coalition for Pluralistic Public Discourse im Studio Я der europäischen Zeitenwende des Backlashs widmen und Wege für eine Erinnungskultur des Widerstands diskutieren.
Eine Kooperation der Coalition for Pluralistic Public Discourse (CPPD) mit dem Maxim Gorki Theater.
Beteiligte: Max Czollek, Cátia Severino, Noa K. Ha, Jo Frank, Johanna Korneli und Weitere
Die Veranstaltung findet in englischer Sprache statt.
Weitere Veranstaltungen im Rahmen des Europäischen Kongresses:
Netzwerkpartner*innentreffen
CPPD Barcamp
15. März | 11 – 15 Uhr | Villa Elisabeth, Berlin
Zur Veranstaltung
Dynamic Memory Lab
Eröffnung des Dynamic Memory Lab “Cycles of Decolonisation”
15. März | 16 Uhr | Villa Elisabeth, Berlin
Zur Veranstaltung
Wir freuen uns auf Eure Teilnahme!
Johanna Korneli, Jo Frank, Max Czollek
Einlass: 18:30 Uhr
Beginn: 19:00 Uhr
Maxim Gorki Theater, Studio Я