Im Reichstagsgebäude war es ruhig am 27. Februar 1933, denn Reichspräsident Paul von Hindenburg hatte das Parlament unmittelbar nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler auf dessen Wunsch hin aufgelöst. Am 5. März sollten Neuwahlen stattfinden. Doch gegen 21 Uhr hörte ein zufällig vorbeikommender Student splitterndes Glas, sah einen Feuerschein und eine schemenhafte Gestalt. Der Mann alarmierte die Polizei.
Die schemenhafte Gestalt war der Holländer Marinus van der Lubbe, geboren 1909, gelernter Bauarbeiter. Er konnte nach einem Arbeitsunfall seinen Beruf nicht mehr ausüben. 1931 hatte er mit der kommunistischen Partei gebrochen, träumte aber nach wie vor von revolutionären Aktionen. Am 18. Februar 1933 traf er in Berlin ein, wo die Nazis gerade an die Macht gekommen waren. Hier wollte er ein Zeichen des Protestes setzen.
Van der Lubbe kaufte einen größeren Vorrat an Streichhölzern und Kohleanzündern. Der erste Brandanschlag galt dem Wohlfahrtsamt Neukölln, doch die Kohleanzünder landeten in der Damentoilette und verglommen. Van der Lubbes zweites Ziel war das Rote Rathaus am Alexanderplatz. Diesmal gelang es ihm, ein Feuer zu entzünden, doch es wurde schnell entdeckt und gelöscht. Danach versuchte sich der Brandstifter am Berliner Stadtschloss, wo er um ein Haar ein Großfeuer auslöste – doch auch diesmal scheiterte er an der Brandwache.
Ausgerechnet im Reichstag war er dann erfolgreich. In nur fünfzehn Minuten durchquerte er einen Gutteil des Gebäudes und legte zahlreiche Brände, indem er Servietten, Tischtücher, Vorhänge und schließlich sogar die eigene Kleidung in Brand setzte. So kam es, dass van der Lubbe bei seiner Verhaftung nur noch Hose und Hosenträger trug.
Um den Reichstagsbrand ranken sich verschiedene Theorien.
Vor allem eine wird seit Jahrzehnten immer wieder vorgebracht: Marinus van der Lubbe sei kein Einzeltäter gewesen, die Nationalsozialisten hätten den Brand wenige Tage vor der Reichstagswahl am 5. März 1933 selbst gelegt. Überzeugende Beweise gibt es dafür aber nicht. Viele renommierte Forscher*innen weisen diese These zurück.
Mit dem Brand vor 90 Jahren begann der NS-Staat eine gnadenlose Hatz auf missliebige Gegner*innen.
Noch in der Nacht wurde eine Besprechung im preußischen Innenministerium anberaumt. Der deutschnationale Staatssekretär Ludwig Grauert schlug eine „Notverordnung gegen Brandstiftung und Terrorakte“ vor. Doch Reichsinnenminister Wilhelm Frick, einer der wenigen Nationalsozialisten in Hitlers erstem Kabinett, legte am nächsten Morgen den Entwurf einer „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vor – auch bekannt als „Reichstagsbrandverordnung“. Hier wurde die vollziehende Gewalt dem Reichsinnenminister übertragen und nicht der Reichswehr, denn das hätte die Position des Reichskanzlers Hitler geschwächt. Diese Notverordnung, vom Reichskabinett am 28. Februar 1933 beschlossen, hob alle bürgerlichen Freiheitsrechte auf unbestimmte Zeit auf. Sie war die Grundlage für die nun einsetzende Welle von Verhaftungen, Terrorakten gegen die Linksparteien, Zeitungsverboten, willkürlichen Hausdurchsuchungen und so weiter. Die Diktatur hatte endgültig begonnen. Auch die neue Hilfspolizei aus SA und SS kam dabei zum Einsatz. Doch obwohl man mehr als 10.000 Menschen verhaftete und viele von ihnen in SA-Kellern und anderen provisorischen Haftorten bestialisch folterte, wurden die kommunistischen Hintermänner, die van der Lubbe angeblich gehabt hatte, nicht gefunden.
Die Vorstellung, die Nazis hätten den Reichstag selbst angezündet, hatte eine gewisse Plausibilität angesichts der nachfolgenden Bücherverbrennungen, der gewaltsamen Unterdrückung Andersdenkender, des Sturms auf die Gewerkschaftshäuser und des alltäglichen Terrors gegen die jüdische Minderheit. Beweise gab es für diese These nicht. Sie setzte sich deshalb erst durch, als beim Nürnberger Prozess 1946 der ehemalige Abwehr-Mann Hans Bernd Gisevius behauptete, zehn SA-Männer hätten den Reichstag in Brand gesteckt, von denen aber keiner mehr am Leben sei. Über die offensichtlichen Ungereimtheiten in seinen Aussagen sah man einfach hinweg.