Wann setzt Erinnern ein? Wann beginnen Gesellschaften und Individuen auf der Basis von Erinnerung, Geschichte zu verhandeln, Geschichte zu schreiben? In pluralen Gesellschaften existieren Erinnerungskulturen nebeneinander. Sie greifen einander auf, werden ihrerseits eingewoben in die Erzählung, wer mit dem Wir einer Gesellschaft gemeint ist, und wer nicht.
Im Rahmen der Konferenz „Gegenwart erinnern“ der Coalition for Pluralistic Public Discourse (CPPD) wurden gerade die Fragen fokussiert, wie Pluralistisches Erinnern eine Gegenwart der Polykrisen angemessen und produktiv mit einschließen kann. Die Konferenz widmete sich den Möglichkeiten, den Grenzen und der Reaktionsfähigkeit von Erinnerung und Erinnerungskultur in Anbetracht tagesaktuellen politischen Geschehens. Dahinter steht die Überzeugung, dass Erinnerungskulturen grundlegend an Verständigungsprozessen unserer Gesellschaften über soziale Identität(en) beteiligt sind. Sie spielen auch in Konfliktdynamiken, die wir heute auf deutscher, europäischer und globaler Ebene erleben, eine zentrale Rolle und zeigen die engen Verwobenheiten unserer Geschichten und Erinnerungsmodi auf. Diese wirken nicht nur auf die Gegenwart ein – Gegenwart bestimmt unsere Verwobenheiten.
Diese Schwerpunktsetzung wurde in besonderem Maße durch den terroristischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober herausgefordert. Das bewusste Entscheiden für das Durchführen der Konferenz unter den Bedingungen von Krieg und Gewalt war verbunden mit der Einsicht, dass gerade im Erinnern an die Gegenwart Empathie gestärkt werden muss, um solidarisch zu handeln, um gleichzeitig der Opfer des Hamas-Terrors zu gedenken und das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung anzuerkennen.
Während der Konferenztage ging es nicht um Aufmerksamkeits- oder Platzkämpfe im Erinnerungskalender: Es ging um das Auffalten dieses Kalenders – um seine Anreicherung und um die Vitalisierung eines Versprechens, das zur Floskel geworden ist: Nie Wieder!
Beim Netzwerkpartner*innentreffen am Freitag, 20. Oktober 2023 in der Villa Elisabeth waren mehr als 40 verschiedene Institutionen, Projekte und Initiativen vertreten, die sich in Deutschland und Europa für erinnerungspolitische Anliegen einsetzen. Moderiert durch den Demokratiecoach Vatan Ukaj von wertansich(t), bot das ganztägige Programm einen Raum für Austausch über Erfahrungen in erinnerungspolitischer Arbeit in Deutschland und Europa. Durch eine gesteigerte öffentliche Wahrnehmung der CPPD im Jahr 2023 und einer erfolgreich ausgebauten Netzwerkarbeit war das Teilnahmeaufkommen im Vergleich zum Vorjahr deutlich erhöht. Das Netzwerkpartner*innentreffen war ein Ort des Zusammenkommens, um gerade in Zeiten der Krise nachhaltige Allianzen und Bündnisse zu schaffen.
Auf der Abendveranstaltung in der Akademie der Künste am 21. Oktober 2023 wurden konkrete Ergebnisse aus der Arbeit der CPPD präsentiert. Auch hier stand das Thema „Gegenwart erinnern“ im Fokus. Eine Teilversion des Dynamic Memory Lab ermöglichte es dem zahlreich erschienenen Publikum, Eindrücke in das dynamische Ausstellungsprojekt zum Thema „Codes of Memory in Roma*- und Sinti*-Communities“ zu gewinnen. Erste Ergebnisse der Online-Umfrage zu Pluralen Erinnerungskulturen der CPPD wurden vorgestellt. Hier zeigten sich Analysetrends, die die zentralen Werte und Ziele der CPPD im Rahmen pluralistischer Erinnerungskulturen weiter unterstützen. Zudem wurde der Veranstaltungsreihe der CPPD „Past Perfekt?“ durch einen musikalischen Beitrag des Autoren und Pianisten Daniel Gerzenberg auf der Bühne Raum gegeben.
Kernstück des Abends war das Panel „Gegenwart erinnern“, das ausgewählte Expert*innen und Mitglieder aus dem CPPD-Netzwerk dazu einlud, über das Konferenzthema zu diskutieren. Das Panel stand im Kontext einer im Vorfeld der Konferenz umgesetzten medialen Gesprächsreihe, in der Expert*innen aus Kunst, Kultur, Journalismus, Aktivismus und Politik verschiedene Konfliktregionen und Erinnerungsmomente fokussierten. Sie gehen gleichermaßen explorativ auf die vielfältigen Fragen rund um das Erinnern von Gegenwart ein. Die entstandenen Videos wurden kurz vor der Konferenz auf der Website der CPPD veröffentlicht und stehen auf dieser Seite verfügbar.
Die dreitägige Konferenz schloss mit einer Veranstaltung im Haus der Kulturen der Welt am Sonntag, 22. Oktober 2023. Mitglieder aus dem CPPD-Netzwerk waren zur Gesprächsreihe „Versöhnungstheater“ von Max Czollek, Lyriker, Publizist und Autor sowie Kurator der CPPD, eingeladen. Im Gespräch mit Mirjam Zadoff gingen sie Fragen an der Schnittstelle von Erinnerung und Gewalt nach.
Die Notwendigkeit von Räumen für gemeinsame Reflexionen und gemeinsames Handeln wurde während der Konferenz allen Teilnehmer*innen auf eindrückliche Art bewusst. Das einmalige Netzwerk der CPPD hat auch in Anbetracht der enormen Herausforderungen, vor der unsere gemeinsame Gesellschaft steht, das Potential gezeigt, das im Ernstnehmen unserer pluralen Gesellschaft liegt: Sind alle gemeinsam in die Lage versetzt, in Anerkennung ihrer ganzen Vielfalt Gesellschaft mitzugestalten, ist eine Veränderung unserer Gesellschaft möglich; eine Veränderung, die Verantwortung durch Teilhabe fördert. Wir möchten uns bei allen Unterstützer*innen bedanken.
Villa Elisabeth, Berlin
Akademie der Künste, Berlin