„Jeder hatte etwas in der Hand, Werkzeug, Latten, Steine, Gabeln, Messer, (…). Manche hatten aber nur die bloßen Hände. In keinem Block (…) hätten die Menschen sich ohne Widerstand zu den Gaskammern transportieren lassen“, so erinnerte der damals 10-jährige Münchner Hugo Höllenreiner den 16. Mai 1944. Er war mit seiner Familie von der Kriminalpolizei aus München im Frühjahr 1943 nach Auschwitz-Birkenau in ein eigens für Sinti*izze- und Rom*nja-Familien erreichtes Teillager verschleppt worden. Nachbar*innen konnte nicht unbemerkt bleiben, dass Wohnungen frei oder Menschen abgeholt wurden, zumindest „wegkamen“. Gerüchte waren weit verbreitet und in großen Teilen auch Wissen: Wie von anderen Orten bekannt, begleiteten auch Münchner Polizisten den Deportationszug persönlich bis ins Lager. Beamt*innen in den Standesämtern vermerkten auf den Einwohnermeldekarteien „verzogen nach Auschwitz“ oder auch Sterbetage und -orte. Friedhofsverwaltungen waren mit dem Krematorium in Auschwitz in Kontakt, wenn (vermeintliche) Asche für die Angehörigen geschickt wurde. Geschäftsmänner verkauften Zyklon B, machten Umsatz. Ingenieure unternahmen Dienstreisen, um die Gaskammern und Öfen technisch zu verbessern. Sekretär*innen schrieben Briefe – „stets gern für Sie beschäftigt“.
Von den über 22.000 nach Auschwitz-Birkenau deportierten Sinti*zze und Rom*nja aus vorrangig dem deutschsprachigen Raum, Polen und Tschechien kamen über 85 Prozent ums Leben: sie wurden ermordet und erschlagen, sie erfroren oder verhungerten. Ein Großteil der Verschleppten waren Kinder. Allein in dem Münchner Transport von 1943, zu dem auch die Familie Höllenreiner gehörte, waren mindestens 69 der 141 Verschleppten Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. 35 hatten das zehnte Lebensjahr noch nicht erreicht. Babys und Kinder hatten im Lager Auschwitz-Birkenau kaum eine Chance. Sie waren permanent auf Hilfe von (noch halbwegs) kräftigen Erwachsenen angewiesen. Diese waren aber in vielen Fällen selbst ohnmächtig. Überlebende berichteten von ihrer enormen Hilflosigkeit und dem unbeschreiblichen Schmerz, da sie mitansehen mussten, wie ihre Kinder, Verwandte und Freunde verhungerten oder von der SS direkt ermordet wurden.
Obwohl die Situation der Sinti*zze und Rom*nja zumeist ausweglos war, versuchten diejenigen, die noch körperlich dazu in der Lage waren, auf die katastrophalen Verhältnisse im Lager Auschwitz-Birkenau aufmerksam zu machen: einige schmuggelten Nachrichten nach außen oder versuchten, verschlüsselte Briefe zu verschicken. Manche unternahmen Fluchtversuche. Widerstand in den Konzentrationslagern war vielfältig: von Protest als Einzelperson oder kleineren Gruppen bis hin zu größeren Aufständen. Weitere Formen umfassten das individuelle Überlisten der SS oder die versteckte Sabotage am Zwangsarbeitsplatz. Außerhalb der Lager, vor allem im östlichen und südöstlichen Europa, schlossen sich Sinti*zze und Rom*nja Partisaneneinheiten und Widerstandsgruppen gegen die deutsche Besatzungsmacht an.
Die Überlieferungen zum 16. Mai 1944 im Sinti*zze- und Rom*nja-Familienlager in Auschwitz-Birkenau und dem Widerstand vor Ort an diesem Tag sind bis heute dünn. Neben der gesellschaftlichen Ignoranz, dem Desinteresse und der Ablehnung der europäischen Geschichte von und mit Sinti*zze und Rom*nja ist dies auch ein Grund, warum über die Ereignisse heute nur wenig bekannt ist. Zeitzeugenberichte gibt es nicht viele. Die wenigen verfügbaren wurden erst viele Jahrzehnte nach der Befreiung geschrieben oder aufgenommen.
Elisabeth Schneck-Guttenberger, ebenfalls aus München, erinnerte sich Anfang der 1990er Jahren an diese „tragische Geschichte“. Sie war damit eine der Ersten, die überhaupt öffentlich über eine Widerstandsaktion in Birkenau 1944 sprach: „Da haben sich unsere Sinti aus Blech Waffen gemacht. Sie haben sich die Bleche zugeschnitzt zu Messern. Damit und mit Stöcken haben sie sich bis zum Äußersten gewehrt.“ Was genau am 16. Mai 1944 geschah, wie die Vorbereitungen genau aussahen, woher die Festgehaltenen Informationen hatten und wie sie sich absprachen, wie die Ereignisse endeten und die SS reagierte, ist in weiten Teilen fraglich. Schriftliche Quellen gibt es wenige und Befragungen der Überlebenden begannen erst in den letzten 20 Jahren: Für viele offene Fragen viel zu spät.
Zudem erlebten viele Überlebende, wohl die meisten, die Zeit nach der Befreiung als zweites Trauma: nun als „Landfahrer“ stigmatisiert, überwachten die gleichen Polizeibeamten sie nach 1945 erneut. Die staatliche wie gesellschaftliche Ausgrenzung hielt also an, Entschädigungszahlung oder -renten blieben aus oder wurden erst mit Jahrzehnten Verspätung „gewährt“. Die Bundesrepublik Deutschland unter Kanzler Helmut Schmidt erkannte erst 1982 den NS-Völkermord an Sinti*zze und Rom*nja an. Dies gilt heute als erster Wendepunkt, der ein öffentliches Sprechen ermöglichte und unterstütze – wenn auch erneut mit Verzögerung und geringem gesellschaftlichen Interesse. Nur in kleinen Schritten wurde die Bereitschaft zum Zuhören bei der deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft größer. Auch die Forschung zur NS-Verfolgung an Sinti*zze und Rom*nja sowie deren Nachwirkungen, deren Kontinuitäten und Brüche vor 1933 und nach 1945, blieb lange aus.
Belegt ist, dass die SS am 16. Mai 1944 die geplante sogenannte „Liquidierung“ des Lagers für Sinti*izze- und Rom*nja-Familien nicht durchführte, sie zumindest verzögert wurde. Vor allem Sinti*izze-Überlebende aus München meldeten sich ab den 2000er Jahren zu Wort und verwiesen auf deren maßgebliche Beteiligung an einer Widerstandsaktion in Auschwitz, die die Auflösung des Lagers zunächst aufgehalten habe. In der Folge wurden Gefangene, die als noch arbeitsfähig galten, in andere Konzentrationslager verschleppt, der Lagerbereich in Birkenau für Sinti*zze und Rom*nja im Sommer 1944 „verkleinert“.
Anfang August 1944 blieben noch etwa 4.200 bis 4.300 Menschen zurück, meist Alte, Kranke und Kinder. Die SS ermordete sie in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau. Filip Müller, ein slowakischer Jude, war einer der wenigen überlebenden Häftlinge des Konzentrationslagers, die im sogenannten „Sonderkommando“ im Krematoriumsbereich arbeiten mussten und auch einer der wenigen Zeugen der Mordaktion: „Der Auskleideraum war gegen Mitternacht voll von Menschen. (…) Von allen Seiten waren verzweifeltes Schreien, Jammern und vorwurfsvolles Anklagen zu hören. Sprechchöre wurden laut: ‚Wir sind Reichsdeutsche! Warum wollt ihr uns umbringen?‘ (…) Während sie den letzten Gang antraten, weinten viele vor Verzweiflung, andere bekreuzigten sich und flehten Gott an, wieder andere, die sich immer noch nicht mit ihrem unabwendbar gewordenen Schicksal abfinden wollten, wandten sich, lebhaft gestikulierend, an die SS-Leute und riefen ihnen immer wieder zu: ‚Wir sind doch Reichsdeutsche! Mit uns könnt ihr das doch nicht machen!‘“ (zit. nach: Müller, Filip: Sonderbehandlung. 1979, S. 241-244).[6]