Liebe Semra,
es sind so viele Anfänge, die ich probiere, um die richtigen Worte zu finden. Mit dir zu sprechen, macht mir Mut, macht mich traurig. Ich setze an, um meine Stimme zu finden, dem Schweigen ein Ende zu setzen.
Mein Name ist Bassam, ich bin sieben Jahre alt.
An einem sonnigen Tag 1982, Berlin Neukölln, Hermannplatz. Ich erinnere mich an eine Menschenansammlung, vielleicht eine Kundgebung, eine Demo. Ich spüre eine bedrohliche Stimmung. Ich schnappe etwas auf, was wie „Ausländer raus“ klingt.
Ich verstehe nicht, was das bedeuten soll.
Bevor ich begreife, was los ist oder fragen kann, packt mein Vater meine Hand und zieht mich schnell in eine andere Richtung. Ich bekomme mit, wie er seine Schritte beschleunigt.
Ich finde keine Worte. Ich spüre die aufkommende Panik bei meinem Vater … und als wir zu Hause sind, traue ich mich nicht zu sprechen, geschweige denn meinen Vater zu fragen:
Was heißt „Ausländer raus“? Und wohin raus?
Dein Name ist Semra Ertan.
Ich höre deinen Namen, ich sehe dein Gesicht.
Ich sehe eine junge Frau.
Ich sehe eine Tankstelle … in Hamburg St. Pauli.
Es ist der 24. Mai 1982, es ist morgens früh um 5:15 Uhr …
Es ist feucht, es riecht nach Benzin.
Benzin, welches du in einem Kanister zuvor an einer Tankstelle gekauft hast.
Du sprichst dein Gedicht „Mein Name ist Ausländer“.
Dein Körper in Flammen.
Stille.
Liebe Semra,
deine Worte, deine Texte, deine Gedichte leben in uns weiter.
Dein Sprechen setzt dem Schweigen ein Ende.
Durch dich hat meine Stimme eine Kraft bekommen.
Ich spreche mit Semra und über Semra und im Gedenken an Semra.
Semra Ertan. Dein Name wird nicht vergessen.
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Semra Ertan war Schriftstellerin, Arbeitsmigrantin und politische Aktivistin.
Am 24. Mai 1982 hat sich Semra Ertan in Hamburg öffentlich selbst verbrannt, um auf die unzumutbaren Zustände der Arbeitsmigrant*innen und den wachsenden Rassismus in Deutschland aufmerksam zu machen. Sie schrieb über 300 Gedichte, Satiren und politische Beiträge. 2020 wurden 82 ihrer Gedichte unter dem Titel „Mein Name ist Ausländer“[8] veröffentlicht, 2021 mit einer Lyrik-Empfehlung und mit dem Alfred Döblin-Preis ausgezeichnet.