„Tag der Befreiung“

Andrea Hanna Hünniger

Erinnerungen werden zunehmend zu einer Kampfzone heutiger Konflikte. Und Gedenktage werden zu mächtigen Waffen politischer Ideologie.

So ist besonders der 8. Mai zu einer Kampferinnerung geworden. Der 8. Mai 1945 ist der Tag der sogenannten „Befreiung vom Nationalsozialismus“. Wobei das Wort „Befreiung“ impliziert, die Deutschen wären Gefangene der Nazis gewesen. So hält sich um diesen Tag eine seit Jahrzehnten hartnäckig geführte Debatte um Formulierung und eben auch Wahrnehmung.

2018 gaben 69 Prozent der Befragten an, unter ihren Vorfahren seien keine Täter*innen des Zweiten Weltkriegs gewesen. Dabei waren viele Millionen Deutsche aktiver Teil der NS-Herrschaft – teils direkt in Konzentrations- und Gefangenenlagern, andere als Soldat*innen in besetzten Gebieten, als Arbeiter*innen in Waffenfabriken, Bürokrat*innen oder NSDAP-Mitglieder.

In derselben Umfrage sagten auch fast 95 Prozent der Teilnehmer*innen, dass sie Geschichtsunterricht in der Schule für eher wichtig oder sogar sehr wichtig hielten, vor allem, um durch historische Aufklärung eine Rückkehr des Nationalsozialismus zu verhindern. Es hat lange gedauert, bis die Deutschen dieses Bewusstsein entwickelt haben.

Einen weiteren maßgeblichen Schritt machte die bundesdeutsche Erinnerungskultur 1985, als Bundespräsident Richard von Weizsäcker eine international viel beachtete Rede zum Jahrestag des Kriegsendes hielt. Hatten die Deutschen den 8. Mai 1945 zuvor überwiegend als Tag der Niederlage gesehen, nannte ihn Weizsäcker ausdrücklich „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“.

In den vergangenen Jahren versuchten rechte Politiker*innen eine erinnerungspolitische Rolle rückwärts: Der Thüringer AfD-Extremist Björn Höcke bezeichnete das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“, der damalige AfD-Vorsitzende Alexander Gauland tat 2018 den Nationalsozialismus als »Vogelschiss« in der deutschen Geschichte ab. Parteivorsitzende Alice Weidel bezeichnete das Ende Nazideutschlands im Herbst 2023 als „Niederlage“, die sie nicht „befeiern“ wolle. Damit verhöhnte sie Millionen Opfer, für die am 8. Mai 1945 Hitlers Gewaltherrschaft endete. Ihre geschichtsrevisionistische Äußerung entspricht der gängigen Meinung vieler AfD-Mitglieder. Laut Grundsatzprogramm ist es das Ziel der Partei, die »Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst«.

Der in einen Spionageskandal verwickelte AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl, Maximilian Krah, sorgte im Herbst 2023 mit einem TikTok-Clip für Aufsehen. „Unsere Vorfahren waren keine Verbrecher“, sagte er und rief seine Follower*innen dazu auf: „Krieg mal raus, was Oma, Opa, Uroma und Uropa gemacht haben …, was sie gekämpft und gelitten haben.“ Später stellte sich heraus, dass Krahs Großvater Mitglied in Hitlers Partei NSDAP war, was der Enkel bis dahin nicht wusste.

Der 8. Mai ist nicht einfach nur ein „Tag der Befreiung“. Die Deutschen waren keine unschuldigen Gefangenen von Hitlers Regime. An diesem Datum muss deshalb auch an die millionenfachen grausamen Verbrechen erinnert werden, die von deutschem Boden ausgingen.  Wie gefährlich es sein kann, wenn politische Extremist*innen wie jene der AfD die Deutungshoheit über die Geschichte erlangen, lässt sich am Beispiel Putins studieren. Dieser rechtfertigte den Angriffskrieg auf die Ukraine mit einem Vergleich mit der Roten Armee, die gegen Nazideutschland gekämpft hatte. Und so mit den Alliierten die Deutschen zur Kapitulation zwangen.

Dieser Gedenktag ist Beweis genug, dass Erinnerung beweglich ist. Dass historische Fakten gefährlich fragil werden können, wenn die Falschen sie zu kontrollieren versuchen. Erinnerung kann immer auch eine Waffe sein. Sie sind inzwischen eine veritable Gelegenheit, rechte Ideologien eine scheinbare Berechtigung zu geben.

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