22.-26. August: Pogrom in Rostock-Lichtenhagen

 Dan Thy Nguyen

Zwischen dem 22. und 26. August 1992 fand das größte Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte in Rostock-Lichtenhagen statt.

An diesem Pogrom waren mehrere hundert Rechtsextremist*innen und tausende applaudierende Zuschauer*innen beteiligt, wobei Letztere nicht nur den Einsatz von Polizei und Feuerwehr behinderten, sondern sogar Neonazis Schutz vor der Polizei geboten hatten.
Als dann die „Aufnahmestelle der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber“, wo das Pogrom begonnen hatte, am 24. August evakuiert wurde, wurde das angrenzende Wohnheim, in dem sich Vietnames*innen und ein Fernsehteam des ZDF aufgehalten hatten, belagert, und mit Molotow-Cocktails in Brand gesteckt. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zog sich die Polizei sogar völlig zurück und ließ die eingeschlossenen Menschen zurück – den Angriffen, dem Feuer und der Meute ohne jegliche Hilfe ausgesetzt.

2022 wiederholt sich nun zum dreißigsten Mal der Jahrestag des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen 1992 und damit die Debatte um die noch nicht gelöste Frage, wie ein komplexes, intersektional verflochtenes und multiperspektivisches Erinnern möglich ist. Und auch: Wie kann die Perspektive der Betroffenen und Überlebenden in den Fokus gestellt werden, das heißt eine Perspektive, die bisher in der zivilgesellschaftlichen und staatlichen Erinnerungspraxis kaum wahrgenommen wurde. Während bis zum neunzehnten Jahrestag nahezu keine Überlebenden des Pogroms zu den offiziellen Gedenkveranstaltungen eingeladen worden sind, stellt der zwanzigste Jahrestag einen ersten, kleinen Wendepunkt dar: Auf Druck der Community wurden 2012, also 20 Jahre nach dem Pogrom, zum ersten Mal die vietnamesischen Opfer eingeladen. Jedoch wurden ihnen Redebeiträge verwehrt, sodass sie, wie der Kultur- und Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha beschreibt, „schmückendes Beiwerk der öffentlichen Inszenierung“ des staatlichen Gedenkens waren.[10]

Seitdem wird beim Berichten über das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen jedoch häufiger versucht, die Perspektive der ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen mit einzubeziehen.

Ob dies allein auf die Initiative der vietnamesischen Community in Rostock zurückzuführen ist, ist meiner Meinung nach aber fraglich, denn natürlich hatte es in den letzten Jahrzehnten noch andere Entwicklungen gegeben: Die Art und Weise der Aufdeckung der rechtsterroristischen Mordserie des NSU machte 2011 zum Beispiel einer breiten Öffentlichkeit deutlich, dass die Perspektive von Betroffenen und Opfern rassistischer Gewalt mehrheitlich ignoriert wurde und wird. Das rechtsterroristische Netzwerk, welches zwischen 2000 und 2007 aus rassistischen Motiven Menschen ermordet hatte, blieb bis zur sogenannten „Selbstenttarnung“ unentdeckt. Zeitgleich hatte jedoch die Polizei rechtsextreme Motive weitgehend ausgeschlossen und Täter*innen im Umfeld der Opfer gesucht. Ein ähnlich ignorantes Vorgehen hätte sich die Stadt Rostock, in der Mehmet Turgut durch den NSU ermordet wurde, 2012 wahrscheinlich nicht mehr leisten können.[11] 

Auch wenn der zwanzigste Jahrestag zumindest Bewegung in die Erinnerungskultur gebracht hat, müssen wir aber 2022 und damit zehn Jahre danach konstatieren, dass eine strukturelle, kontinuierliche und nachhaltige Einbeziehung von Betroffenen und Überlebenden des Pogroms nicht stattfindet.

 

Rom*njaperspektiven in Lichtenhagen
Wenn wir von dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen 1992 sprechen wird aber oftmals vergessen, dass die Ereignisse sich zunächst gegen Rom*nja aus Rumänien und nicht gegen Vietnames*innen gewendet hatten. Der Antiziganismus des Pogroms wird meistens ausgeblendet und eine zivilgesellschaftliche bzw. staatlich organisierte Erinnerungskultur, die die Perspektive der betroffenen Rom*nja mit einbezieht, ist bis heute entweder gar nicht vorhanden oder stark unterrepräsentiert.[12]

Vielleicht kann man diese Tatsache als einen antiziganistischen Zug der Erinnerungskultur lesen, von denen linke bzw. antirassistische Ansätze nicht verschont bleiben.

Die Aufarbeitung und Einbeziehung dieser Menschen scheinen bis dato noch nicht als wichtig genug angesehen worden zu sein. Dies ist immer noch eine der fatalen Leerstellen dieses Pogroms, die aufs dringendste aufgearbeitet werden müsste.

Weiter dürfen wir im Sinne eines intersektionalen Erinnerns nicht nur von einem in der Weißen Mehrheitsgesellschaft bestehenden Antiziganismus sprechen. Es gibt ihn auch in der vietnamesischen Community. Dieser Antiziganismus führt übrigens bis heute dazu, dass eine solidarische und gleichberechtigte Aufarbeitung aus der Perspektive aller Opfer und Betroffenen des Pogroms bis dato unmöglich erscheint.

 

Aktivismus und jüdische Perspektiven
Weiterhin ist im gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein folgendes Ereignis im Komplex von Rostock- Lichtenhagen kaum bekannt: Eine Gruppe von Jüdinnen*Juden und Rom*nja mit dem Namen „Söhne und Töchter der deportierten Juden Frankreichs“ hat im Oktober 1992 das Rostocker Rathaus besetzt. Unter dieser Gruppe befand sich u. a. Beate Klarsfeld, die durch die Ohrfeige an den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger bekannt wurde.[13] 

Dieses Ereignis macht also deutlich, dass Rostock-Lichtenhagen nicht nur das massivste Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte war, sondern stellt auch einen Komplex unterschiedlicher und verflochtener Solidaritäten dar, welcher über die Grenzen der eigenen Communities hinausgeht.
Lichtenhagen ist ein Komplex. Nicht mehr und auch nicht weniger.

 

Eventisierung des Gedenkens
Es gibt einen erwähnenswerten Fehler, den man im Zeichen des Erinnerns an das Pogrom begehen kann: Rostock-Lichtenhagen 1992 ist kein singuläres Event, sondern eines der Höhepunkte einer Reihe von Ereignissen, die stellenweise vergessen sind. Neben den Anschlägen in Mölln, Solingen, Hoyerswerda, etc. hat es Anfang der Neunziger (und natürlich auch später) unzählige rassistisch, antisemitisch und antiziganistisch motivierte Übergriffe und Anschläge in der gesamten, wiedervereinigten Bundesrepublik gegeben, welche aber kaum mediale Beachtung gefunden haben. Lichtenhagen als ein singuläres Ereignis anzusehen und es nicht mit all diesen Ereignissen Anfang der neunziger Jahre bewusst zu verzahnen, wäre wahrscheinlich ein verharmlosender Akt.

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