„Dort, wo andere Menschen ihr Herz haben, sitzt bei Avery Brundage ein Diskus“, hat einer seiner Sportsfreunde mal über den Präsidenten des Olympischen Komitees (IOC) gesagt. Tatsächlich: Scheinbar ungerührt ließ Brundage 1972 die Olympischen Spiele in München fortführen, nachdem palästinensische Terroristen die israelischen Sportler David Berger, Zeev Friedman, Josef Gutfreund, Eliezer Halfin, Josef Romano, Amitzur Shapira, Kehat Shorr, Mark Slavin, André Spitzer, Yakov Springer, Mosche Weinberg entführt und schließlich ermordet hatten.
Erpicht, die Spiele von den aufdringlichen Tentakeln der realen Welt abzuschirmen, sagte der uralte IOC-Kaiser nach einer eintägigen Gedenkminute, die Spiele seien unpolitisch – also weiter geht’s. Brundage aber war selbst hochpolitisch. Denn als hochdekorierter Sportfunktionär und Vertreter der USA ließ der Antisemit, Hitler-Bewunderer und Nazi-Sympathisant bereits bei den Spielen 1936 in Deutschland auf infame Weise zwei jüdische Sprinter aus der 4-mal-100-Meter-Staffel entfernen, weil sie im Falle eines Sieges Hitler noch mehr bloßgestellt hätten.
Dabei liegt das Problem der Olympischen Spiele in ihrer Erfindung selbst: Die Spiele sind aus einem verlorenen Krieg entstanden. Erschüttert von Frankreichs Niederlage gegen Deutschland 1870/71, suchte ihr Gründer Baron Pierre de Coubertin, ein Pädagoge und Historiker, nach einem Weg, seine vermeintlich verweichlichten Landsleute wieder zu stählen. Er fand eine Lösung im Sportunterricht. Er träumte einerseits von sportlichem Kampf statt Krieg. Aber er träumte eben auch von einer weißen, männlichen Bruderschaft der Starken, von kriegerischen Athleten, die, wenn nötig, das Vaterland mit ihrer Muskelkraft verteidigen.
Erst seit 2006 bemüht sich das Olympische Komitee um Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Mitbekommen hat das natürlich noch niemand. Auch die Mischung aus Pannen, Ignoranz und Unvermögen deutscher Politiker*innen begleitet die Tragödie von 1972: Schließlich hatte die bayerische Justiz noch kurz nach den Morden die drei festgenommenen, überlebenden Täter aus Angst vor einem Anschlag frei gelassen und ausgeflogen. Erst die israelische Premierministerin Golda Meir musste es richten: Sie ließ den Mossad losziehen und 13 Hintermänner, Verdächtige und Tatbeteiligte, die sich auf der ganzen Welt verteilt hatten, töten. Die Mission wurde später als „Operation Zorn Gottes“ bekannt.
Bis zuletzt war nicht klar, ob Israels Präsident Jitzchak Herzog und die Hinterbliebenen überhaupt an den Gedenkveranstaltungen teilnehmen würden. Bundespräsident Frank Walter Steinmeier entschuldigte sich bei Herzog in der vergangenen Woche, die ganze Prozedur der Aufarbeitung sei „beschämend“ gewesen. Denn erst nach jahrzehntelangem Streit, kurz vor dem Jahrestag, hat die Bundesregierung sich mit den Hinterbliebenen auf eine Entschädigungsleistung geeinigt – um einen Eklat zu vermeiden.