9. September: NSU-Mord an Enver Şimşek

Caro Keller

Enver Şimşek wurde am 4. Dezember 1961 in Salur Koy geboren. Schon in seiner Jugend lernte er seine spätere Ehefrau Adile kennen. Nach ihrer Hochzeit 1978 musste Enver Şimşek zunächst seinen Militärdienst in der Türkei absolvieren, Adile Şimşek zog nach Deutschland. Gemeinsam ließen sie sich 1985 in Hessen nieder und bekamen zwei Kinder. Mit 31 Jahren machte sich Enver Şimşek als Blumenhändler selbstständig. Sein Unternehmen wuchs auf 30 Mitarbeiter*innen an, die unter anderem an unterschiedlichen Orten Deutschlands Blumen verkauften. Im Jahr 2000 plante Enver Şimşek, weniger zu arbeiten.

Enver Şimşek wurde am 9. September 2000 an seinem Blumenstand in der Parkbucht einer Nürnberger Ausfallstraße vom NSU niedergeschossen. Es ist der erste bekannte Mord der rassistischen Mordserie. Normalerweise hätte er an diesem Tag nicht gearbeitet, war aber für einen Angestellten eingesprungen. Enver Şimşek verstarb zwei Tage später im Krankenhaus. Nebenklagevertreterin der Familie im NSU-Prozess, Seda Başay-Yıldız, berichtet, die Familie Şimşek sei von der Polizei informiert worden, dass Enver Şimşek im Krankenhaus sei und mit seinem „Ableben jederzeit zu rechnen“ sei.

Die Polizist*innen rieten der Familie jedoch davon ab, aus dem Wohnort in Hessen nach Nürnberg ins Krankenhaus zu fahren, man könne dort sowieso nichts tun: „Aber ganz wichtig wäre es, wenn sie jetzt zur polizeilichen Vernehmung kommen.“ Die Familie fuhr trotzdem zu ihrem Angehörigen, der im Krankenhaus mit dem Tod rang. Am nächsten Tag holte die Polizei Adile Şimşek vom Krankenbett weg zur Vernehmung. Die Polizisten stellten bereits zu diesem Zeitpunkt Fragen nach „Schutzgelderpressung“ und „Drogen“, obwohl die Familie nie polizeilich aufgefallen war. Kaum mehr als die Tatsache, dass Enver Şimşek – wie die meisten Blumengroßhändler – regelmäßig in die Niederlande gefahren ist, um neue Ware einzukaufen, reichte den Behörden, um zunächst gegen die Familie Şimşek zu ermitteln und dann in der Folge gegen die Angehörigen und das Umfeld der weiteren Mordopfer. Und es wurde jahrelang weiter in diese Richtung ermittelt. Trotz der Ergebnislosigkeit derartiger Ermittlungen schon beim ersten Mord an Enver Şimşek.

2006, nach den Morden an Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat, demonstrierten Angehörige der Ermordeten in Kassel und in Dortmund unter dem Motto „9 Opfer – Wir wollen kein 10. Opfer. Stoppt die Mörder“. Sie wollten auch auf ein mögliches rechtes Motiv der Mordserie aufmerksam machen. Semiya Şimşek, die Tochter von Enver Şimşek, beschreibt in ihrem Buch „Schmerzliche Heimat“, warum sie im Jahr 2006 gemeinsam mit Gamze Kubaşık, der Tochter des in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık, ein Interview gab: „Als Gamze und ich uns kennenlernten, beschlossen wir, nicht mehr länger zu schweigen, sondern an die Öffentlichkeit zu gehen. Wir gaben ein Fernsehinterview. Vor Wut, dass nichts passierte, dass die Angehörigen nur mit den ewig gleichen Verdächtigungen traktiert wurden, dass der Möglichkeit der Ausländerfeindlichkeit nie nachgegangen wurde. […] Das alles verpuffte ohne Nachhall.“

Die Familie von Enver Şimşek kämpft bis heute um Aufklärung. Der Tatort in Nürnberg wurde 2021 Enver-Şimşek-Platz benannt. Auch in Jena, der Herkunftsstadt des NSU-Kerntrios, wurde ein Platz nach ihm benannt.

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