12. August: Mord an Delfin Guerra und Raúl Garcia Paret in Merseburg

Initiative 12. August

„Mein Sohn ist als großer Mann fortgegangen und sie haben ihn mir in einer kleinen Box zurückgebracht.“

Im Sommer 1979 kamen Delfin Guerra und Raúl Garcia Paret als sogenannte „ausländische Werktätige“ oder „Vertragsarbeiter“ nach Merseburg in die DDR. Vermutlich war die Aufregung der beiden 18- und 21-jährigen groß. Ihnen wurde eine Ausbildung in einem der „modernsten“ sozialistischen Länder versprochen, um damit ihre Familien zu unterstützen und den wirtschaftlichen Aufbau in Kuba voranzubringen. Doch dieser Plan endete abrupt. Die Personalakten Raúls und Delfins geben ein nüchternes Zeugnis von ihrem kurzen Aufenthalt in der DDR:

Name: Guerra, Vorname: Delfin, geb.: 19.11.60
Geburtsort: Camaguey, Heimatanschrift: San Jose de Las Lajas
Wohnheim: Mersebg. Süd
Familienstand: led.
Schulbildung: 8. kl. Beruf: ohne
Einstellungsdatum: 8.7.79
entlassen: 16.8.79 tot

Name: Garcia, Vorname: Andrés, geb: 10.3.58
Geburtsort: Las Villas, Heimatanschrift: Las Villas, Las Minas
Wohnheim: Mersebg. Süd
Familienstand: led.
Schulbildung: 8. kl., Beruf: ohne
Einstellungsdatum: 24.6.79
entlassen: 15.8.79 tot

Nur knapp einen Monat nachdem sie eingereist waren, wurden Delfins und Raúls Leichen aus dem Fluss Saale in Merseburg geborgen. Was war passiert?

Ramón Cruz, ein damaliger Kollege der beiden, erzählt in einem Interview von dem allgegenwärtigen Rassismus, dem die Kubaner*innen damals in Merseburg begegnet sind: Auf der Arbeit, in der Stadt, in Diskotheken. Es soll mehrere gewaltvolle Angriffe auf die Menschen aus Kuba gegeben haben, berichtet der Historiker Harry Waibel. Am 12. August entschloss sich dann eine Gruppe von Kubanern, dies nicht mehr länger hinzunehmen. Sie griffen eine Diskothek an, in der sich mehrere der deutschen Angreifer*innen aufgehalten haben sollen. Doch die Situation drehte sich und endete in einer rassistischen Hetzjagd, bei der mehrere Menschen aus Kuba gewaltsam in die Saale getrieben wurden. Sie wurden beleidigt und mit Steinen und Flaschen beworfen. Delfins und Raúls Leichen wurden erst mehrere Tage später geborgen.

Alle beteiligten Personen aus Kuba wurden abgeschoben und in Kuba teilweise inhaftiert. Den Familien von Delfin und Raúl wurden die wahren Todesumstände verschwiegen. Ihre Leichen wurden ungefragt eingeäschert und in einer Urne den Familien übergeben. Das entspricht nicht der Tradition in Kuba. Ein Neffe von Delfin Guerra berichtete davon, wie Delfins Vater noch Jahrzehnte später zu sagen pflegte: „Mein Sohn ist als großer Mann fortgegangen und sie haben ihn mir in einer kleinen Box zurückgebracht.“

In Merseburg erinnert heute nichts mehr an das tragische Schicksal Delfins und Raúls. Die deutschen Täter*innen von damals mussten sich nie vor einem Gericht verantworten. Doch seit 2019 etabliert die Initiative 12. August ein Gedenken an beide. Sowohl vor Ort in Merseburg, als auch im gesellschaftlichen Gedächtnis. Die Initiative hat auch Kontakt zu den beiden Familien hergestellt. Bei der Gedenkveranstaltung am 12. August 2022 haben zum ersten Mal Angehörige von Delfin Guerra online live an dem Gedenken teilgenommen. Rosa Guerra, die Schwester von Delfin, sagte dort in einer Audio-Nachricht:

„Ich danke der Initiative dafür, dass Sie jeden 12. August an meinen Bruder und seinen Kollegen erinnern. Wegen Ihnen haben wir die Wahrheit darüber erfahren, was ihm zugestoßen ist. Uns wurde immer gesagt, dass er ertrunken sei. Dank Ihnen wissen wir, dass es Mord war. Als Familie fühlen wir tiefen Schmerz und Traurigkeit über unseren Verlust. Auch wenn es nun schon viele Jahre her ist, erinnern wir uns noch, als wäre es gestern gewesen. Und auch wenn wir nicht in Deutschland sein können und Sie alle nicht persönlich kennenlernen können, werden Sie immer einen Platz in unseren Herzen haben.“

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