14. und 27. Juni: Lebende Scheiterhaufen in Višegrad

Melina Borčak

Geboren, gehasst, gefangen. Mit Mama und 70 anderen Menschen in ein Haus eingesperrt und lebend verbrannt. Das waren die einzigen zwei Tage im Leben eines namenlosen Babys aus Višegrad, Bosnien. Namenlos, weil das kleine Mädchen nicht einmal lang genug lebte, um eine Geburtsurkunde zu haben. Und weil ihre gesamte Familie – alle, die erzählen könnten, wie sie hieß, ebenfalls bei lebendigem Leibe verbrannt wurden.

Heute wäre sie erst 30. Denn es geschah 1992, gleich am Anfang des Genozids an Bosniak*innen und des Angriffskrieges gegen Bosnien. In Višegrad lebten vor dem Genozid rund 13.000 Bosniak*innen, also bosnische Muslim*innen. Mehr als 3.000 davon wurden ermordet. Tausende mehr wurden vergewaltigt oder vertrieben. Die einzigen Bosniak*innen, die nach dem Genozid 1992 in Višegrad noch am Leben waren, waren einzelne Frauen und Mädchen, die in Vergewaltigungslagern gefangen gehalten und gefoltert wurden.

An vielen Orten wurden Bosniak*innen (bosnische Muslim*innen) lebend verbrannt. Besonders bekannt sind die sogenannten Lebenden Scheiterhaufen in Višegrad. Lebende Scheiterhaufen, auf Bosnisch „Žive lomače” sind die Namen für jene Verbrechen, in denen Bosniak*innen während des letzten Genozids lebend verbrannt wurden. Wer auf Deutsch nach Informationen dazu sucht, sucht vergeblich. Der Begriff „Lebende Scheiterhaufen” wird nirgends im Kontext des Genozids in Višegrad erwähnt, obwohl er Bosniak*innen tief in die Seelen graviert ist. Erinnerungskultur, Medien und Politik scheitern ein weiteres Mal, wenn es darum geht, überhaupt nur zu wissen, was bosnischen Muslim*innen angetan wurde. Sogar während ich dies schreibe, zieht mein Laptop rote Linien unter die Namen dieser brutalen Massenmorde, als wären es Rechtschreibfehler, da sie im kollektiven Gedächtnis des „Westens” nicht stattfinden.

Am heutigen Jahrestag erinnern wir an den Lebenden Scheiterhaufen in Bikavac. Dort wurden 70 Menschen zusammengepfercht und in ein Haus gezwungen, das zuvor dem bosniakischen Eigentümer geklaut wurde. Dann wurde das Haus verbrannt, ebenso wie die Menschen darin. Die Mehrheit der Opfer waren Frauen, Kinder und ältere Menschen. Eine einzige Frau überlebte – Zehra Turjačanin. Mit komplett verbrannter Haut und fehlenden Fingern musste sie tagelang durch Wälder flüchten, um den serbischen Truppen nicht wieder in die Hände zu fallen. Sie überlebte. Trotz schwerem Trauma fand sie die Kraft, vor dem UN- Tribunal gegen die Mörder auszusagen.

Nicht einmal zwei Wochen vor Bikavac, am 14. Juni 1992, verübten die gleichen Mörder einen weiteren Lebenden Scheiterhaufen, in dem über 60 Menschen ermordet wurden. In der Pionirska-Straße wurden ebenfalls ältere, erschöpfte Menschen sowie Frauen und Kinder gefangen. Einige von ihnen wurden vergewaltigt. Sie wurden in ein Haus eingesperrt, in das Sprengstoff geworfen wurde. Feuer entflammte. Menschen, die versuchten, durch die Fenster zu springen, um sich aus dem Feuer zu retten, wurden erschossen. Die verkohlten Leichen der Opfer zeigen: Das zwei Tage junge Baby verbrannte, von seiner Mutter umarmt.

Die Lebenden Scheiterhaufen Višegrads gehören zu den grausamsten Verbrechen des letzten Genozids an Bosniak*innen, und somit des 20. Jahrhunderts. So sehen es auch die Richter*innen des UN-Sondertribunals in Den Haag: „In der gesamten, zu langen und zu traurigen Geschichte des menschlichen Elends und der Unmenschlichkeit des Menschen gegenüber dem Menschen müssen die Scheiterhaufen in der Pionirska-Straße und in Bikavac einen hohen Stellenwert einnehmen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts, das von Kriegen und Blutvergießen gigantischen Ausmaßes geprägt war, sind diese schrecklichen Ereignisse ins Gedächtnis eingraviert. Wegen der besonderen Grausamkeit, die für einen Flammenmord notwendig ist, wegen der offensichtlichen Vorsätzlichkeit und Berechnung, die ihnen innewohnt, und wegen der schieren Gefühllosigkeit, Monstrosität und Brutalität, die Opfer in zwei Häuser zu zwingen, die zu Fallen wurden, welche sie im darauffolgenden Inferno hilflos machten, sowie wegen des Ausmaßes an Schmerz und Leid, das den Opfern zugefügt wurde, die bei lebendigem Leib verbrannt wurden.”

Wenn Zehra Turjačanin trotz all ihrem Trauma die Kraft hatte, in Den Haag den Mördern ihrer Familie in die Augen zu sehen und gegen sie auszusagen, dann schaffen es doch auch wir, die Stimmen von ihr und anderen Überlebenden zu stärken. Viele der serbischen Mörder, Vergewaltiger und Kriegsverbrecher laufen frei herum. Serbien leistete keine Reparationen und leugnet den Genozid bis heute. Die meisten Serb*innen leugnen den Genozid ebenfalls oder feiern Kriegsverbrecher sogar als Volkshelden. Deshalb müssen unsere Stimmen umso mehr, umso lauter und stärker sein, wenn wir an Višegrad und den übrigen Genozid erinnern.

 

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