Am 3. August 2014 fiel die sogenannte IS-Terrormiliz im Shingal im Nordirak in rund 20 êzîdische Dörfer und Städte ein. Bereits in den ersten Tagen wurden 3.000 Männer ermordet und in Massengräbern verscharrt. Frauen und Mädchen wurden systematisch vergewaltigt und an Sklavenhändler verkauft; kleinere Jungen entführt und als Kindersoldaten rekrutiert. Schätzungsweise wurden bis zu 5.000 Êzîden*innen ermordet. Die UN geht von bis zu 10.000 Todesopfern und bis zu 7.000 entführten Frauen und Kindern aus. Etwa 400.000 Êzîden*innen wurden aus ihrer Heimatregion im Irak vertrieben. Bis heute werden immer noch 2.700 Frauen und Kinder vermisst.
Berichte Überlebender, die unter anderem im Buch „Ferman 74“ zusammengetragen wurden und 2021 in deutscher Übersetzung erschienen, legen nahe, dass die êzîdische Bevölkerung im Nordirak Hauptziel der IS-Terroristen war und deren Verfolgung und Ermordung aufgrund von ethnisch-religiösen Motiven systematisch vorangetrieben wurde. Zudem zerstörte der IS jegliche Lebensgrundlage der Êzîden*innen: Häuser, Gärten und Plantagen wurden niedergebrannt, um eine mögliche Rückkehr zu verhindern.
Die brutale Unterdrückung und Gewalt nahm nach 2014/2015 jedoch kein Ende: 2018 wurde vermehrt von verschleppten êzîdischen Frauen in Afrîn berichtet. Im Frühjahr 2023 tauchte ein Video auf, in dem zu sehen war, wie êzîdische Männer, ähnlich wie 2014, zur Konversion gezwungen wurden. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Êzîden*innen während des Ersten Weltkriegs im osmanischen Reich und später in der Türkei immer wieder Gewalt und Unterdrückung ausgesetzt waren.
Nach dem Überfall des IS 2014 im Nordirak beschloss die damalige grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg, 1.000 Frauen und Kinder in einem Sonderkontingent aufzunehmen. Die Männer der Familien sollten später nachgeholt werden. Bis heute warten 18 êzîdische Frauen darauf, dass ihre Männer, wie versprochen mit Unterstützung Baden-Württembergs in Sicherheit gebracht werden. 2015 flohen über 75.000 Êzîden*innen nach Deutschland, wo derzeit schätzungsweise 200.000 von ihnen leben. Damit ist die êzîdische Gemeinde in Deutschland die größte außerhalb des Iraks. Im Januar 2023 beschloss der Bundestag einstimmig die offizielle Anerkennung der Gräueltaten als Genozid. Allerdings bleibt die Anerkennung lediglich symbolischer Natur. Maßnahmen vonseiten der Bundesregierung gegen die Unterdrückung der Êzîden*innen bleiben weiter aus.
Das Erinnern und Gedenken an den Genozid sollte daher nicht nur eine mahnende Funktion einnehmen, sondern auch zum aktiven Handeln gegen die systematische Diskriminierung und Verfolgungen der Êzîden*innen veranlassen.