26. April: Internationaler Tag des Gedenkens an die Tschornobyl-Katastrophe

Olesya Yaremchuk

In der Nacht zum 26. April 1986 hörten Anwohner*innen zwei Explosionen im Kernkraftwerk Tschornobyl in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Der Reaktor des vierten Kraftwerksblocks wurde vollständig zerstört, auf dem Dach brach ein Feuer aus. Die Überreste des Reaktors schmolzen und eine Mischung aus Metall, Sand, Beton und Brennstoffpartikeln breitete sich unter dem Reaktorgelände aus.

Feuerwehrleute wurden geschickt, um das Feuer zu löschen und ahnten nicht, welche Folgen diese Nacht für ihre Gesundheit haben würde. Kinder gingen morgens zur Schule und deren Eltern zur Arbeit. Die Bewohner*innen von Prypjat, einer Stadt in der Region Kyiv, die in unmittelbarer Nähe zu Tschornobyl für die Arbeiter*innen dort errichtet worden war, wurden nicht über das Ausmaß der Katastrophe informiert, die bis heute die größte in der Geschichte der zivilen Nutzung von Kernenergie ist.

Eine radioaktive Wolke zog vom Unfallort aus über das Territorium der Sowjetunion (UdSSR) hinweg – am stärksten betroffen waren Belarus, Russland und die Ukraine. Aber auch Schweden, Finnland, Österreich, Norwegen, Bulgarien, Schweiz, Griechenland, Slowenien und Italien litten unter den Folgen.

Aus dem kontaminierten Gebiet rund um den Reaktor wurden in den kommenden Tagen und Wochen 300.000 Menschen evakuiert, über die genauen Umstände des Unfalls aber im Dunkeln gelassen. So gingen die Einwohner*innen von Prypjat von einer vorübergehenden Evakuierung aus: Als sie in die Busse stiegen, nahmen sie nur das Nötigste mit, eine Thermoskanne mit Tee und eine Tüte belegte Brote. Haustiere wurden zurückgelassen, in der Erwartung, man würde bald zurückkehren können.

Über das tatsächliche Ausmaß der Tragödie wurde geschwiegen. Informationen über die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in der Geschichte der Menschheit wurden von der Partei- und Staatsführung und den Sonderdiensten der UdSSR sofort als geheim eingestuft. Erst als in Schweden höhere Strahlenwerte als gewöhnlich festgestellt wurden, erfuhr der Rest der Welt von dem Reaktorunglück in Tschornobyl.

Eine wichtige Rolle bei der anfänglichen Vertuschung spielte der sowjetische Geheimdienst, das sogenannte „Komitee für Staatssicherheit“ (KGB). So heißt es in einem der ersten Berichte des KGB-Büros in Kyiv, der am 26. April an das KGB der UdSSR geschickt wurde:

„Um das Durchsickern von Informationen zu verhindern, falsche und panische Gerüchte zu verbreiten, wird die Kontrolle der ausgehenden Korrespondenz organisiert, der Zugang von Abonnenten zu internationalen Kommunikationsleitungen ist begrenzt.“[2]

Statt aufzuklären beeilten sich viele KGB-Kräfte, s. g. „von Panik ergriffene Redner“ zu identifizieren. Mit ihnen wurden täglich „Vorgespräche“ geführt, zweimal am Tag mussten die Regionalabteilungen solche „Panikmacher“ bei der Geschäftsleitung melden.

Dass der Wind eine radioaktive Wolke über Kyiv blies, hielt die Staatsführung nicht davon ab, die Einwohner*innen an einem der wichtigsten ideologischen Feiertage der Sowjetunion zu einer überfüllten Parade auf die Straßen zu schicken: Der Leiter des KGB berichtete dem Sekretär des Zentralkomitees, Volodymyr Shcherbytsky in den Tagen nach dem Unfall, er habe trotz allem eine angemessene Kontrolle über die Abhaltung der Feierlichkeiten zum 1. Mai sichergestellt.

Meine Großmutter erzählte mir von diesen Tagen – davon, wie dunkle und schmutzige Wolken über ihrem Dorf in der Nähe von Lviv wirbelten. Meine Mutter wurde, wie alle Angestellten in der Fabrik, in der sie arbeitete, am 1. Mai losgeschickt, um rote Fahnen durch die Straßen von Lviv zu schwenken.

Am Morgen des 3. Mai 1986 wurden 911 Patienten mit Symptomen von Strahlenschäden in der Ukraine ins Krankenhaus eingeliefert. Am nächsten Tag 1.345, darunter 330 Kinder. Ein paar Jahre später musste meine Mutter sich einen Tumor in ihrer Schilddrüse entfernen lassen. Lag es an Tschornobyl? Schwer zu überprüfen. Bei zahlreichen Personen, die der nuklearen Strahlung ausgesetzt waren, wurden später Krankheiten wie Schilddrüsenkrebs, Leukämie und akute Strahlenkrankheit diagnostiziert.

Der ukrainische und amerikanische Historiker Serhij Plohij hat ausführlich über diese Tragödie in dem Buch „Tschornobyl. Geschichte der Atomkatastrophe“ geschrieben. Die ukrainische Schriftstellerin Kateryna Mikhalitsyna hat mit „Flowers near the Fourth“ und „Reactors Do Not Explode. A Brief History of the Chornobyl Disasterein“ Bücher veröffentlicht, die der jüngeren Generation helfen, die Katastrophe von Tschornobyl zu verstehen.

Seit dem Reaktorunglück sind 36 Jahre vergangen. Heute geht von Tschornobyl erneut Gefahr aus: Am 24. Februar 2022, dem ersten Tag der großangelegten russischen Invasion in der Ukraine, eroberten die russischen Besatzer*innen das Kernkraftwerk und nahmen die Tschornobyl-Arbeiter*innen als Geiseln. In der Station befanden sich etwa 500 russische Soldat*innen und 50 Einheiten, ausgestattet mit schweren Waffen.

Laut dem ukrainischen Energieminister Herman Galushchenko wurden die Arbeiter*innen der Station gefoltert. Erst am 20. März 2022, fast einen Monat später, war es möglich, das Tschornobyl-Personal teilweise abzulösen und Menschen zu evakuieren, die sich auf dem besetzten Territorium befanden. Die Arbeiter*innen waren mehr als 600 Stunden im Einsatz und haben ihre beruflichen Pflichten heldenhaft erfüllt, um ein angemessenes Sicherheitsniveau aufrechtzuerhalten.

Die Gefahr einer neuen nuklearen Katastrophe war dennoch sehr hoch, denn die russischen Besatzer*innen zögerten nicht, auf die Stationen zu schießen. Auch das Kernkraftwerk Zaporizhzhya im Süden der Ukraine wurde mit Raketen beschossen. Diese trafen in der Nähe von Stationsgebäuden ein und verursachten ein großes Feuer.

Die russischen Besatzer*innen wählten ausgerechnet den sogenannten „Roten Wald“ aus, um dort Schützengräben auszuheben. Dies ist ein zehn Quadratkilometer großer Nadelwald, der nach dem Unfall von Tschornobyl dem größten Teil der Strahlungsemissionen ausgesetzt war. Nach wie vor manifestiert sich hier ein erhöhtes Strahlungsvorkommen. Ohne Grundkenntnisse über das Verhalten in radioaktiv verseuchten Gebieten, ohne persönliche Schutzausrüstung und ohne Beachtung der Regeln des Atom- und Strahlenschutzes, gefährdeten die russischen Besatzer*innen sich ebenfalls.

Nach Angaben des Generalstabs der Streitkräfte der Ukraine wurden mehrere russische Soldat*innen, die während ihres Aufenthalts in der Sperrzone von Tschornobyl erheblichen Strahlendosen ausgesetzt waren, im wissenschaftlich-praktischen Zentrum für Strahlenmedizin und Humanökologie in Gomel, Belarus, untergebracht.

Der russische Staat belügt nicht nur den Rest der Welt über den Krieg in der Ukraine, auch die eigenen Soldat*innen werden ungeschützt und uniformiert in radioaktiv verseuchte Gebiete geschickt.

Die Ereignisse aus den ersten Kriegswochen haben noch einmal gezeigt, dass die Sicherheit kerntechnischer Anlagen unter allen Umständen Vorrang haben muss, um Tragödien ähnlicher Art in Zukunft zu verhindern.

 

Zurück zum Pluralistischen Gedenkkalender