9. November: Fünf Stationen – fünf Erinnerungen.

Peggy Piesche

Drei Orte, drei Perspektiven:

Erfurt, Pädagogische Hochschule am frühen Abend: Eine 21-jährige Schwarze Studentin ist bereits im Jugendclub – heute würden wir sagen eine Bar – zum studentischen Zusammensein mit anderen Kommiliton*innen, als die nunmehr historisch gewordene Pressekonferenz stattfindet. Es muss erst einmal ein Röhren-TV in diese Bar aufgestellt werden, um zu zeigen, was da eigentlich gerade passiert. Die Stimmung ist zum Greifen: Sehr viel Aufregung, sehr viel Unglauben, sehr viel Unsicherheit. Die junge Schwarze Studentin denkt: „Vielleicht ist ja jetzt Einiges möglich. Möglich, die eigene Familie zu finden. Möglich, nach Nigeria zu reisen. Möglich auch aus der Enge der Kleinstadt der DDR zu kommen.“

Berlin, Heinrich-Heine-Straße, circa 22:00 Uhr: Eine Gruppe von jungen Schwarzen und PoC Jugendlichen aus der DDR erfahren, dass die Grenze auf einmal offen ist. Auch hier Unglauben, auch hier Irritation. Der 9. November steht für etwas anderes. Es fühlt sich nicht richtig an. Sie überlegen sich aber dennoch, zum Grenzübertritt Heinrich-Heine-Straße zu gehen und zu schauen, ob es möglich ist, nach Westberlin zu gehen. Dort treffen sie auf eine Gruppe junger Schwarzer Mitglieder aus der Initiative Schwarzer Menschen (ISD) und machen eine nicht vorhersehbare erste Netzwerkarbeit, die später dann auch zu einem größeren Verbund in der ISD führen wird.

Berlin, Checkpoint Charlie, ebenfalls ungefähr 22:00 Uhr: Eine junge, Schwarze, queere Aktivistin, die in Westberlin lebt und beruflich oft nach Westdeutschland fahren muss, macht auf ihrer Rückkehr aus Westdeutschland zum ersten Mal die Erfahrung, dass keine DDR-Grenzsoldaten Wache stehen, Ausweispapiere fordern und Einschüchterungspraktiken auf sie abfeuern. Sie überlegt sich spontan, mit ihrer Mutter zum Alexanderplatz zu fahren.

Bruch: Erfahrungen

Mitte Dezember, Berlin-Kreuzberg: Nuran aus der türkisch-kurdischen Community nimmt vermehrt die Begebenheiten in ihrer Community wahr, dass weiße Deutsche aus Westberlin in die Läden von türkischen und kurdischen Menschen kommen und ihnen sagen, sie mögen ihre Koffer packen, „jetzt sind wir wieder ein Volk, jetzt kommen die Ostdeutschen“.

Ebenfalls Mitte Dezember, Erfurt, Nähe des Domplatzes, die junge 21-jährige Schwarze Studentin: „Ich erlebe auf einer Demonstration gegen die Vernichtungsaktionen in der Stasizentrale in der Andreasstraße einen ersten Umbruch in der Bewegung. Von ‚Wir sind das Volk‘, einem Kommunikationsangebot an die Regierung, hin zu „Wir sind ein Volk“ und schließlich war es wieder zu hören: ‚Deutschland den Deutschen‘. In dem Moment weiß ich: Das ist nicht mehr meine Bewegung. Hier bin ich nicht mehr gemeint.“

Transformationswissen – Labor 89

2018/2019: Deutschland erinnert und fühlt sich gut dabei. Es beginnt mit „50 Jahre 68“, einer Emanzipationsbewegung, einer Erfahrung, die Deutschland guttut. Und es geht schließlich weiter mit „30 Jahre sogenannte friedliche Revolution“. Perspektiven wie die hier geschilderten sind nicht dabei, werden beflissentlich nicht nur ausgeblendet, sondern mit einer Leerstelle besetzt. Doch wir machen uns auf, diese Perspektiven einzuholen, ins Gespräch zu bringen, sie sozusagen auszugraben, auszugraben auch aus dem eigenen Gedächtnis. Denn als wir beginnen, ein Projekt zur Erinnerung von „50 Jahre 68“ aus BIPoC-feministischer Perspektive zu gestalten, stellen wir vor allem fest, dass unsere älteren Schwestern sich gar nicht mit den 68ern identifizieren, weil es ihnen als solches nie angeboten wurde. Als wir ein nächstes Projekt beginnen Labor 89: Intersektionale Bewegungsgeschichten aus West und Ost stellen wir fest, dass wir bereits 1989 viele Schritte unternommen haben, uns kennenzulernen, uns zu vernetzen und unsere Geschichten, auch unsere Bewegungsgeschichten kennenzulernen. Aber auch, dass wir wenig Räume haben, in denen wir diese auch weitertragen können. Denn mittlerweile bin ich eine der älteren Schwestern. Und es ist wichtig, auch diese transgenerationalen Erfahrungen weiterzugeben. Das ist Erinnerung, das ist intersektionale Erinnerung. Und dies nicht nur heute zum 9. November, sondern über das Jahr verteilt, brauchen wir immer wieder diese Räume, um diese Erfahrungen am Leben zu halten, um sie weiterzugeben und sie dann auch in etwas transformieren zu können, sodass nachfolgende Generationen damit etwas sehr Bedeutungsvolles machen werden.

 

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