6. Februar: Erdbeben in der Türkei und Syrien

Anja Fahlenkamp

Ein schweres Erdbeben mit einer Skalenstärke von 7,8 erschütterte am 6. Februar 2023 nicht nur die Türkei und Syrien, sondern die ganze Weltgemeinschaft. Die Folgen des Erdbebens waren unfassbar verheerend: trotz umfangreicher Hilfsbemühungen, erschwert durch zerstörte Zugangsstraßen, stieg Tag um Tag die Zahl der Opfer rasant an. Die Bergungsarbeiten dauerten mehrere Monate an, bis zum 22. April 2023 wurden über 59.000 Todesopfer gezählt, davon über 50.700 in der Türkei und über 8.400 in Syrien – die tatsächliche Zahl der Toten dürfte jedoch noch höher sein. Über hunderttausend weitere Menschen wurden verletzt. Mindestens 520.000 Familien verloren ihre Wohnungen. Im Erdbebengebiet und seinem Umkreis wurden unzählige Häuser und die vorhandene Infrastruktur zerstört, die Wasser- und Energieversorgung brach zusammen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzte, dass insgesamt etwa 23 Millionen Menschen in der Region vom Erdbeben und seinen Folgen unmittelbar betroffen waren. Menschen überall auf der Welt und natürlich auch in Deutschland mussten um ihre Angehörigen und Freunde in der Türkei und Syrien fürchten und trauern. 

Das Erdbeben machte schmerzhaft sichtbar, dass Naturkatastrophen und ihre Folgen jene, die ohnehin bereits besonders vulnerabel sind, besonders und unverhältnismäßig stark trifft. Die Erdbebenregion behaust einerseits eine große kurdische Bevölkerung, die sich in der Türkei weiterhin Diskriminierungen und Unterdrückung ausgesetzt sieht. Andererseits lebt hier ein großer Anteil syrischer Geflüchteter, die vor dem Krieg in Syrien geflohen sind und wirtschaftlich und sozial ohnehin bereits besonders vielen Herausforderungen gegenüberstehen. Die Aufnahmeeinrichtungen im Südosten der Türkei, in denen bis zum Erdbeben Tausende von Syrer*innen untergebracht waren, wurden zum Teil zur Unterbringung und Betreuung der Erdbebenopfer umfunktioniert. Bei der Notunterbringung von Betroffenen landeten Syrer*innen am Ende der Prioritätenliste, ebenso wie beim Zugang zu Versorgungsleistungen und Hilfsgütern. Auch ein Jahr nach dem Erdbeben, in dem der Wiederaufbau nur schleppend vorankommen konnte, sind viele Syrer*innen in der Türkei weiterhin ohne bleibende, menschenwürdige Unterkunft. Die im Land auch während des Wahlkampfs weiter zugespitzte kritische Haltung in weiten Teilen der türkischen Bevölkerung gegenüber syrischen Geflüchteten verschlechtert auch deren Chancen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass die Zahl syrischer Geflüchteter, die von der Türkei aus irregulär in die EU einreisen und hier Asyl beantragen, 2023 beträchtlich angestiegen ist.

Auch im Nordwesten Syriens, wo nach Angaben internationaler Organisationen bereits vor dem Erdbeben über 4 Mio. Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen waren, verschärfte sich die Lage gravierend. Um humanitäre Hilfe in das betroffene Gebiet zu bringen und die humanitäre Lage vor Ort zu verbessern, waren große internationale und diplomatische Bemühungen erforderlich, es wurden sogar einige Sanktionen zeitweise aufgehoben – etwa in Zusammenhang mit Finanztransaktionen. 

Neben Trauer und Erschütterung wurde auch bald Wut sowie scharfe Kritik an der türkischen Regierung laut, die das Erdbeben angesichts jahrelanger Warnungen hätte voraussehen und die Bevölkerung besser schützen sollen. Das Erdbeben kam nur wenige Monate vor der türkischen Parlamentswahl im Mai 2023 und so war es ein besonderes Anliegen der Regierung, vor allem Kontrolle zu projizieren, anstatt Verantwortung zu übernehmen und für die Zukunft zu lernen. Die Lage im Erdbebengebiet bleibt bis heute desolat – Wohnungsnot, Inflation, eine weiterhin schlechte Versorgungslage, von unverarbeiteten Traumata angesichts des unfassbaren menschlichen Verlusts und Leids ganz zu schweigen – doch in den Medien hört man davon nichts mehr, denn es ist im Interesse der aktuellen Regierung, die Probleme stillzuschweigen, auch um ihre Chancen bei den nächsten bereits anstehenden Regionalwahlen 2024 nicht zu verschlechtern. Wenn die fortbestehenden Bedarfe jedoch nicht transparent gemacht werden, dann wird entsprechende Hilfe nicht mobilisiert – das merkt man u.a. daran, dass die EU die finanziellen Beiträge zur Unterstützung von Geflüchteten und Aufnahmegemeinden in der Türkei für die kommenden Jahre reduziert hat –viele Betroffene bleiben weiterhin auf sich alleine gestellt. 

Umso wichtiger ist es, dass das Verantwortungsbewusstsein in den Regierungen aller Länder für die Verhinderung von Naturkatastrophen und für die Linderung ihrer Folgen wächst, ganz besonders über Legislaturperioden und Regierungswechsel hinweg und unabhängig von kurzsichtigen Sorgen um politische Wahlen und Jahreshaushalte. Die letzten Jahre haben unmissverständlich gezeigt, dass der Klimawandel nicht nur häufiger zu Naturkatastrophen führt, sondern dass diese auch geografisch weiter verbreitet werden – auch bis zu uns. Dies erfordert ein grenzübergreifendes, gemeinsames Handeln, realistische Notfallplanung und mutige Investitionen, um Tragödien wie die vom 6. Februar 2023 zukünftig zu vermeiden und um Betroffenen schneller und besser zu helfen. 

 

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