7. Juni: Denkmalsturz in Bristol

Lea Otremba

„It’s one of those moments where the world gets reframed. And in the reframing you realize something around the solidity of a story and how actually that solidity of a story suddenly disappears. It is no longer as solid as you think it is, something that can be deconstructed in a second. A new narrative just literally happens before your eyes.“

Aktivist zum Sturz der Colston-Statue in Bristol (anonym)

In Bristol kam es am 7. Juni 2020 zu einem 10.000 Personen umfassenden Protest in Solidarität mit der sozialen Bewegung Black Lives Matter (BLM). Auslöseereignis war der Tod George Floyds durch Polizeigewalt am 25. Mai 2020 in Minneapolis in den USA: Polizisten wandten einen Würgegriff auf den Afroamerikaner an, dessen Folgen Floyd schließlich im Krankenhaus erlag. Während des ersten Pandemie-Lockdowns gingen das Ereignis und Floyds Aussage „I can’t breathe“ medial um die Welt. Der Vorfall porträtierte ein weiteres Beispiel für die anhaltende Kontinuität schwerer Polizeigewalt, die in den USA, aber auch in Europa auf lange, wenn auch verschiedene historische Traditionen zurückblickt und eng und systemisch mit Sklaverei, Rassismus, weißer Vorherrschaft und Kapitalismus verbunden ist.

In ihrer Folge umschloss die BLM-Bewegung 2020 auch Denkmalstürze als Protestmittel: Sie standen für die Sichtbarmachung von Vergangenheitsdiskursen um zurückliegende Gewaltsysteme und schlossen unmittelbar auch an weitere in den Protesten artikulierte Forderungen um Menschenrechte an. Statuen von Offizieren oder Persönlichkeiten der konföderierten Südstaaten kamen unmittelbar nach Floyds Tod in den USA zu Fall, Denkmalstürze auf globaler Ebene folgten. In diesem Zuge wurde auch die Edward Colston-Statue in Bristols Stadtzentrum durch vier Aktivist*innen – die „Colston Four“ – gestürzt und im Anschluss in den nahe gelegenen Hafen von Bristol geworfen.

Bekannt als Philanthrop der Stadt, generierte Colston im 17. und 18. Jahrhundert als Händler sein Vermögen u. a. auch aus dem transatlantischen Sklavenhandel. Sein Wirken fällt somit in die Zeit des sogenannten „ersten“ Britischen Weltreichs, das insbesondere von der kolonialen Expansion Großbritanniens in der Karibik und an der nordamerikanischen Küste geprägt war und die gewaltvolle Praxis des transatlantischen Sklavenhandels umschloss. In den 1720er Jahren war hieran auch Bristol als führender Hafen beteiligt. Die Errichtung der Colston-Statue im Jahr 1895 zeigt anschaulich, welche Rolle öffentliche Denkmalkultur im Zuge der Nationsbildungsprozesse im 19. Jahrhundert spielte: Denkmäler dienten der Verkörperung politischer Wert- und Identitätsvorstellungen und sollten ein positives, nationales Selbstbild fördern. So ist es zunächst nicht verwunderlich, dass die Colston-Statue weder Colstons Involviertheit in den transatlantischen Sklavenhandel thematisierte, noch die begleitende Gedenktafel auf Verbindungslinien zum britischen Imperialismus und Kolonialismus verweist.

Dies ist in Anbetracht der diversen Gesellschaften im 21. Jahrhundert nicht nur schwer nachzuvollziehen, sondern nicht mehr zu rechtfertigen. Zwar hat in den letzten Jahrzehnten in vielen Kontexten ein Wandel in Praktiken und Prozessen der Gestaltung von neu zu errichtenden Gedenkstätten und Denkmälern stattgefunden. Doch erweisen sich Diskurse um „alte“ Denkmäler und ihre Schutzwürdigkeit als außerordentlich hartnäckig.

Konservative sehen in den Denkmalstürzen oft die Gefahr einer Verdrängung von Geschichte. Sie übersehen dabei, dass Geschichte über Narration und Repräsentationskultur immer auch konstruiert und geformt wird – den „neutralen“ oder erinnerungspolitisch „begrenzten“ Stadtraum gibt es nicht. Der Sturz einer Statue wird weder die gesamte Geschichte des britischen Imperialismus und Kolonialismus (oder anderer Kontexte) auslöschen, noch sein Andenken – zu stark reichen seine Kontinuitäten bis in die Gegenwart: Colston bleibt auch über die Statue hinaus als Namensgeber im Stadtbild Bristols präsent und unsere Gesellschaften von Polizeigewalt, Racial Profiling und anhaltendem Rassismus durchdrungen.

Es ist deshalb wichtig, anzuerkennen, dass aktivistischen Denkmalstürzen in der Regel jahrelange Forderungen vorangehen, deren Umsetzung jedoch durch das strukturelle Silencing der fordernden Communities politisch verwehrt wird. Im Falle der Colston-Statue gab es seit den 1990er Jahren Bestreben, die Gedenktafel der Statue mit einem Textzusatz zu versehen. Obwohl hier sichtbar nicht das „Auslöschen“ von Erinnerung im Vordergrund steht, sondern eine Umstrukturierung von Geschichtsdiskursen, die sich öffentlich kritisch gegenüber imperialer und kolonialer Vergangenheit positionieren, scheiterte dieses Anliegen. Weitere Beispiele gibt es viele. Auch ist es empfehlenswert, den in öffentlichen Debatten oft wahrgenommenen „militanten“ Charakter von Denkmalstürzen in Kontext und Relation zu setzen – u. a. zur langfristigen strukturellen Gewalt, die Betroffene erleben. Dieser Gewaltbegriff spielte auch noch 2022 in dem Gerichtsprozess gegen die „Colston Four“ eine Rolle, die der „kriminellen Sachbeschädigung“ beschuldigt und letztlich freigesprochen wurden.

Der Denkmalsturz in Bristol und weitere Denkmalstürze im Rahmen der BLM-Proteste 2020 schufen für einen kurzen Moment eine neue Aufmerksamkeit in Deutschland und Europa für Diskurse um abolitionistische Zukünfte, das kollektive Gedächtnis und den Umgang mit der eigenen Gewaltgeschichte. Das Erinnern des Tages bietet die Gelegenheit, hieran anzuknüpfen, um neue Perspektiven und erinnerungspolitische Strategien zu entwickeln.

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