2. Juli: Das Massaker von Sivas

Efsun Kızılay

Anlässlich eines Kulturfestivals zum Gedenken an den alevitischen Gelehrten und Dichter Pir Sultan Abdal, der Ende des 16. Jahrhunderts im Osmanischen Reich hingerichtet wurde, kamen am 2. Juli 1993 zahlreiche Intellektuelle, Dichter*innen, Musiker*innen Schriftsteller*innen und Kunstschaffende vorwiegend alevitischen Glaubens in der Stadt Sivas – dem Geburtsort Pir Sultan Abdals – zusammen.

Das Hotel, in dem sich die Teilnehmer*innen des Festivals aufhielten, trug den Namen Madımak. Am 2. Juli versammelte sich ein islamistischer Mob aus ca. 20.000 Personen nach dem Freitagsgebet vor dem Hotel und skandierte Hassbotschaften, in denen aufgefordert wurde, die Menschen im Hotel zu verbrennen. Kurz darauf wurde das Hotel unter Sprechchören lauthals jubelnder Angreifer in Brand gesetzt. Das Feuer breitete sich in Sekundenschnelle aus. Die Aufnahmen des Massakers wurden über Stunden live im Fernsehen übertragen, während die im Hotel eingeschlossenen Menschen verzweifelt auf ihre Rettung warteten. Weder Polizei und Militär, noch die Regierung in Ankara intervenierten. Zeugenaussagen sowie Videoaufnahmen belegen, wie Polizisten der Menge halfen und eine anrückende Militäreinheit sich wieder zurückzog. Aus diesem Grund kann/muss auch von einem staatlich tolerierten Massaker gesprochen werden.

33 Menschen fielen dem Massaker zum Opfer. Das jüngste Opfer, Koray Kaya, war erst 12 Jahre alt, als er mit seiner Schwester Menekşe (15 Jahre) aus dem Leben gerissen wurde. Die alevitische Identität wurde erneut zur Zielscheibe, an der sich Gewalt und Hass entluden.

Nach einem 19 Jahre andauernden Strafverfahren wurde am 13. März 2012 das Verfahren gegen die Drahtzieher und Täter des Massakers eingestellt. Viele Anwälte, die die Täter verteidigten, sind bis heute Funktionsträger der Regierungspartei AKP.

Die meisten Täter wurden freigesprochen oder konnten sich vor einem Verfahren ins Ausland absetzen. 24 Täter flohen nach Deutschland. Bei über acht von ihnen ist bekannt, dass sie noch in Deutschland leben. Ein Täter erhielt die deutsche Staatsbürgerschaft, alle anderen Aufenthaltstitel und Asyl. Keiner der Täter wurde juristisch zur Rechenschaft gezogen. Deutsche Behörden leiteten bis heute keine rechtlichen Schritte ein, obwohl der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllt ist.

Eine politische und gesellschaftliche Aufarbeitung des Massakers und eine Entschädigung der Opfer und ihrer Familien steht bis heute aus. Die Forderung der Angehörigen, das Madımak-Hotel in ein Museum und Mahnmal umzuwandeln, wurde bis heute nicht erfüllt. Stattdessen nutzte man den Ort, an dem 33 Menschen ihr Leben verloren, jahrelang als Restaurant.

Dabei hat die Verfolgung und Diskriminierung der Alevit*innen seit der Gründung der Republik Türkei systematischen Charakter. Auch schon im Osmanischen Reich waren Alevit*innen Repressionen und Verfolgung ausgesetzt.

Bei zahlreichen Massakern gegen die alevitische Bevölkerung in Kahramanmaraş (1978), Malatya (1978) und Çorum (1980) wurden hunderte Menschen ermordet. Schon zuvor forderte der Genozid der türkischen Regierung an der alevitischen Bevölkerung von Dersim 1938 Tausende Tote. All diese Massaker verstärkten die Migrationsbewegungen der alevitischen Bevölkerung in europäische Länder, da sie sich dort ein sichereres Leben erhofften. Die Diaspora stellte dabei einen wichtigen Ort für die Organisierung dar Alevit*innen dar. Sie gründeten europaweit, insbesondere in Deutschland, zahlreiche Kulturzentren und politische Vereine, um sich zu organisieren und dem seit Jahrzehnten anhaltenden Rassismus, der in zahlreichen Massakern kulminierte, gemeinsam zu begegnen.

Zum ersten Mal in der Geschichte der alevitischen Organisierung konnten auch Kulturzentren gegründet werden, die den Namen „alevi“ (alevitisch) trugen. In der Türkei ist dies bis heute verboten. Die Gründung des Dachverbands (Alevitische Gemeinde Deutschland – AABF) ist dabei eine unmittelbare Reaktion auf das Massaker in Sivas 1993, welches bis heute ein Trauma für die alevitische Bevölkerung darstellt. Der jahrelangen und intensiven Arbeit der alevitischen Vereine und ihrer Aktiven ist zu verdanken, dass das erlittene Leid nicht in Vergessenheit gerät und das Bewusstsein für die Wichtigkeit der Erinnerungsarbeit weiterhin geschärft wird. Über den Jugendverband – den Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland (BDAJ) – wird dieses Wissen auch an die jüngeren Generationen weitergegeben.

Damit die Namen der Opfer von Sivas nicht in Vergessenheit geraten:

Hasret Gültekin, Muhibe Akarsu, Muhlis Akarsu, Metin Altıok, Nesimi Çimen, Edibe Sulari, Behçet Aysan, Gülender Akça, Mehmet Atay, Sehergül Ateş, Erdal Ayrancı, Asım Bezirci, Belkıs Çakır, Serpil Canik, Muammer Çiçek, Carina Cuanna, Serkan Doğan, Murat Gündüz, Gülsüm Karababa, Uğur Kaynar, Koray Kaya, Menekşe Kaya, Handan Metin, Sait Metin, Huriye Özkan, Yeşim Özkan, Ahmet Özyurt, Nurcan Şahin, Özlem Şahin, Asuman Sivri, Yasemin Sivri, Inci Türk.

 

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