8.-9. Mai: Das Kriegsende im kollektiven Gedächtnis der Ukraine

Ihor Dvorkin

 In westeuropäischen Ländern steht der 8. Mai 1945, der Tag der „bedingungslosen Kapitulation“ NS-Deutschlands, als „Tag der Befreiung“ für das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. In der UdSSR und in einigen postsowjetischen Ländern hingegen wurde der „Tag des Sieges“ – nach der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde – am 9. Mai gefeiert. Die Sowjetunion erklärte ihn 1965 zum Feiertag, um an den „Sieg über den Faschismus“ im „Großen Vaterländischen Krieg“ 1941–1945 zu erinnern.

Gedenktag in der Ukraine nach der Unabhängigkeitserklärung
Auch nach dem Zerfall der Sowjetunion und der 1991 erklärten Unabhängigkeit wurden die Feierlichkeiten zum 9. Mai in der Ukraine fortgesetzt, in den ersten Jahrzehnten zunächst noch in der Tradition des sowjetischen „Tag des Sieges“. Begangen wurde er mit staatlich organisierten Massenveranstaltungen und Paraden, mancherorts begleitet von der Demonstration von Kriegsgerät und Aufmärschen von Kriegsveteranen. Einige Parteien nutzten den „Tag des Sieges“ für die Mobilisierung ihrer Wählerschaft und die Zurschaustellung der entsprechenden Parteisymbole. Auch der Kriegsopfer wurde an diesem Tag gedacht. Laut einer Umfrage des Razumkov-Zentrums von 2011 betrachteten 70 Prozent der Befragten den „Tag des Sieges“ als „großen Feiertag“[3][i]. Aus einer Reihe von historischen Gründen war der Zuspruch zum Gedenktag im Westen der Ukraine geringer.

Von der Kriegsheldenverehrung zum Gedenken an alle Kriegsopfer
Seit der russischen Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine 2014 hat die Erinnerungskultur in der Ukraine sich gewandelt. Der Tag wird seitdem im Gedenken an alle Kriegsopfer und nicht mehr nur der im heldenhaften Kampf des „Vaterländischen Krieges“ Gefallenen begangen. Seit 2015 wird das Kriegsende wie in Westeuropa am 8. Mai, dem „Tag des Gedenkens und der Versöhnung“ („День пам’яті та примирення“) gefeiert, während der 9. Mai, weiterhin ein nationaler Feiertag, in „Tag des Sieges über den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg“ („День перемоги над нацизмом у Другій світовій війні“) umbenannt wurde. Das Symbol beider Gedenktage ist die Mohnblüte und die Botschaft lautet: „1939–1945. Wir gedenken. Wir werden siegen“ und „Nie wieder“.  

Erinnerung in Charkiw
Wie sehen diese Erinnerungspraktiken in den grenznahen Regionen zu Russland aus? Werfen wir dafür einen Blick auf das nahe an der Grenze gelegene Charkiw im Osten der Ukraine. Auch dort veränderte sich mit der Unabhängigkeit der Ukraine die Ästhetik der Feierlichkeiten, aber nicht ganz so grundlegend wie im Westen des Landes. Die Feierlichkeiten wurden von den kommunalen Behörden organisiert und im Mittelpunkt stand weiterhin die Verehrung der Kriegsveteranen etc. Im Wesentlichen wurde der Feiertag also auch in der postsowjetischen Zeit von Bevölkerung und von offizieller Seite nach wie vor nach dem „traditionellen“ sowjetischen Vorbild der Sowjetunion begangen – zum letzten Mal 2013.

Mit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine 2014 herrschte eine angespannte Atmosphäre in der Stadt. In den Folgejahren verschob sich der Schwerpunkt der Feierlichkeiten allmählich vom Gedenken an die Soldaten der Roten Armee, die im Zweiten Weltkrieg gefallen waren, auf die Opfer des Krieges insgesamt. Und nach Kriegsbeginn veränderte sich natürlich auch die Symbolik. Das Sankt-Georgs-Band und andere sowjetische oder russische Symbole wurden verboten, an ihre Stelle trat auch hier die Mohnblume. Seit 2017 findet am Ruhm-der-Ukraine-Denkmal keine Ehrenwache mehr statt, stattdessen versammeln sich dort Menschenmassen mit Plakaten und Bildern von ihren im Krieg gefallenen oder verstorbenen Familienmitgliedern. Auch das ein Zeichen der allmählichen Schwerpunktverschiebung von einem militärischen zu einem eher individuellen und familiären Gedenken an den Krieg.

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine macht gemeinsame Erinnerungspraktiken unmöglich
2022 war der 9. Mai aufgrund des Kriegsrechts in Charkiw und in der gesamten Ukraine zum ersten Mal ein Arbeitstag. In den Jahren zuvor war er trotz der geschilderten Schwerpunktverschiebungen immer noch in großem Stil gefeiert worden. Das war dieses Jahr unmöglich. Der Hauptveranstaltungsort für die Feierlichkeiten, das Ruhm-der-Ukraine-Denkmal, war bei den seit Beginn der Invasion im Februar andauern russischen Angriffen schwer beschädigt worden. Außerdem rief Ihor Terekhov, der Bürgermeister der Stadt, die Bürger öffentlich dazu auf, das Denkmal erst wieder in Zukunft zu besuchen: „Sobald wir gesiegt haben, werden wir uns wieder gemeinsam dort versammeln, um die Menschen zu ehren, die die Ukraine in dem vergangenen Krieg gegen die faschistische Besatzung und jetzt gegen die Russen verteidigt haben.“[4]

Damit ist aber noch nicht das letzte Wort zu den Feierlichkeiten zum 8. und 9. Mai in der Ukraine gefallen. Das belegen die Umfrageergebnisse einer soziologischen Untersuchung der „Rating“-Group, wonach 80 Prozent der befragten Ukrainer*innen den 9. Mai als „Gedenktag“ und nur 15 Prozent ihn weiterhin als „Tag des Sieges“[5] betrachten. Die Erinnerungskultur ist nicht nur im Wandel begriffen, sondern wird sich in naher Zukunft radikal verändern, da der derzeitige Krieg Russlands gegen die Ukraine gemeinsame Gedenkveranstaltungen unmöglich macht.

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