5. April: Beginn der Belagerung Sarajevos, 1992  

Melina Borčak

Heute vor 30 Jahren begann der „Blutige Frühling“, der Anfang des letzten Genozids an den Bosniak*innen. Der blutige Frühling wurde zum blutigen Sommer und schließlich zu vier blutigen, schmerzvollen Jahren, die mit Worten kaum zu beschreiben sind. Der Genozid begann am 1. April 1992 mit den Massakern von Bijeljina, einer Stadt 200 km nordöstlich von Sarajevo, es folgte die Verbrennung von über hundert Menschen, überwiegend Kinder und Frauen, bei lebendigem Leibe an verschiedenen Orten in Višegrad, die Vergewaltigungslager in Foča, die Todeslager von Prijedor und die Auslöschung ganzer Ortschaften. Und heute vor 30 Jahren, am 05. April 1992, begann die Belagerung der Haupstadt Bosniens, Sarajevo.

Sarajevo liegt dicht gepresst in einem atemberaubenden Tal, umschlossen von Bergen. In der Enge drängt sich eine europäische Metropole, die in den 1980ern Olympia-Gastgeberin und das Herz der regionalen Rockszene war. Wenige Jahre später, Anfang der 1990er wurde sie zum Symbol der Vernichtung, des Terrors und der politischen Gleichgültigkeit der internationalen Staatengemeinschaft.

Der aggressive serbische Nationalismus Slobodan Miloševićs (Präsident der Republik Serbien innerhalb Jugoslawiens von 1989 bis 1997) beschleunigte das Bestreben der Menschen aller Länder des ehemaligen Jugoslawiens nach Unabhängigkeit. Bosnien war bereits unabhängig und als Staat international anerkannt, als die Jugoslawische Volksarmee (nur noch aus Serbien und Montenegro bestehend) in die Hauptstadt Sarajevo einmarschierte, den Präsidenten gefangen nahm und begann, die Bürger*innen der Stadt zu ermorden.

Barrikaden wurden aufgestellt, der Flughafen beschossen und die Stadt umzingelt. Niemand konnte Sarajevo verlassen. Essen, Wasser, Medizin, Strom, Wärme – all das war entweder Mangelware oder gar nicht mehr vorhanden. Die Berge wurden von Olympia-Schauplätzen und Ausflugsorten zu Orten des Terrors, von denen aus die serbischen Truppen die Stadt angriffen und über Jahre hinweg mordeten – über vier Jahre hinweg. Die längste Belagerung einer Hauptstadt in der modernen Geschichte.

Insgesamt wurde die Stadt mit mehr als 500.000 Bomben und Projektilen beschossen. Die Menschen Sarajevos waren den Mördern wie auf einem makabren Silbertablett ausgeliefert. Sie versuchten ihr Leben hinter großen Planen und zerstörten Bussen zu schützen, versteckten sich in Kellern, zählten die Sekunden zwischen Sniperschüssen und rannten dann um ihr Leben. Mehr als 11.500 Mal war es vergeblich. Mehr als 11.500 Menschen wurden ermordet auf Spielplätzen, in Krankenhäusern, in ihren Betten, auf der Straße, bei der Arbeit. Beim Schlafen, während sie versuchten, sich vor Bomben in Sicherheit zu bringen oder während sie in langen Schlangen verzweifelt und ausgehungert für Brot oder Wasser anstanden. Sie wurden ermordet beim Versuch, anderen das Leben zu retten. Beim Versuch, die blutigen, warmen Leichenteile ihrer Liebsten einzusammeln. Beim Versuch, sie zu begraben in immer enger und dichter werdenden improvisierten Friedhöfen.

In den Nachbarschaften Grbavica, Vraca und Kovačići fand Horror innerhalb des Horrors statt: Sie waren nicht belagert, sondern okkupiert – serbische Truppen hielten sich jahrelang in diesen Nachbarschaften auf. Den Einwohner*innen war es verboten, die Wohnungstüren zu schließen, so konnten die serbischen Truppen zu jeder Zeit nach Belieben vergewaltigen, foltern und morden. Ich werde nicht aufhören, es zu wiederholen: Über vier Jahre hinweg. Und mit „serbische Truppen” meine ich nicht nur Soldaten, sondern auch am Morden beteiligte serbische Zivilisten, Paramilitärs, freiwillig Angereiste aus Russland und vielen anderen östlich-orthodoxen Ländern. Und besonders gruselig: Tschetniks, also Anhänger serbischer Nazikollaborateure aus dem Zweiten Weltkrieg, deren Anführer schon im Zweiten Weltkrieg einen Genozid an bosnischen Muslimen verübt haben.

Dieses Sammelsurium der von Großserbien träumenden Mörder terrorisierte die Einwohner*innen der Stadt. Beim angsterfüllten Gang zur Synagoge, zur Kirche, und insbesondere beim Gang zur Moschee. Denn Muslim*innen, also Bosniak*innen, sollten im Genozid vernichtet werden. Christ*innen, die trotz Vorwarnungen und Tipps in Sarajevo blieben, waren Verräter*innen. Jüdische Leben waren den Mördern ohnehin egal. Und das in einer Stadt, in der die teilweise gleichen Jüdinnen*Juden nicht einmal 50 Jahre zuvor schon einmal um ihr Leben gekämpft hatten.

Der Jahrhunderte alte jüdische Friedhof Sarajevos wurde von serbischen Truppen als Stützpunkt missbraucht und desekriert. 95% der Grabsteine wurden zerstört oder durch Schüsse beschädigt, ebenso wie mehrere Holocaust-Mahnmale. Beim Abzug aus der Stadt hinterließen die serbischen Truppen Landminen und nicht explodierte Sprengkörper an zivilen Orten: Auf dem jüdischen Friedhof, in der okkupierten Nachbarschaft Grbavica und auf dem Spielplatz meiner Grundschule, um gezielt Kinder zu ermorden.

Wir Kinder hatten damals allerdings Landminensicherheit als Schulfach. Wir überlebten und sind nun hier, um die Geschichten unserer Stadt, unserer verwundeten, traumatisierten und ermordeten Nachbar*innenn zu erzählen. Die zu schnell beendeten Lebensgeschichten der über 1600 Kinder die, allein in Sarajevo, von serbischen Truppen ermordet wurden. Damit all das nie vergessen wird und nicht verharmlost werden kann. Und damit die Gefahr, die immer noch vom serbischen Nationalismus und antimuslimischen Rassismus ausgeht, endlich gesehen, ernstgenommen und bekämpft wird.

 

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