9. Oktober: Antisemitischer Anschlag in Halle

Laura Cazes & Benjamin Fischer

Am 9. Oktober 2019 begegnete ich einem Protestmarsch, der sich als Reaktion auf und in Solidarität mit den schrecklichen Anschlägen auf die Synagoge in Halle organisiert hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Gelegenheit gehabt, mein Fasten zu brechen. Durch diese Demonstration erfuhr ich, was heute als einer der schlimmsten antisemitischen Anschläge in der deutschen Nachkriegszeit bezeichnet wird. Plötzlich trat jemand vor den Demonstrationszug und zeigte den Hitlergruß. Ausgelöst durch israelische Fahnen, wie er den herannahenden Polizisten lautstark erklärte. Das war Deutschland, 2019.

Ich bin vor drei Jahren nach Deutschland zurückgekehrt und kann immer noch nicht glauben, dass Halle passiert ist. Halle hätte nicht überraschen dürfen und doch hat der Anschlag die ganze Gesellschaft in Entsetzen versetzt. Seitdem wird jeder Jom Kippur von Nachrichten über neue antisemitische Angriffe auf jüdische Gotteshäuser überschattet.

Der 9. Oktober ist ein guter Tag, um all jenen zu danken, die sich gegen Hass positionieren – ohne finanzielle Mittel, ohne Anerkennung und ja, in manchen Fällen unter lebensbedrohlichen Bedingungen. Es ist ein geeigneter Tag, um allen zu danken, die sich dem Schutz von Betroffenen und Opfern widmen, die Dialog ermöglichen, wo er am nötigsten ist und die sich gegen das Vergessen einsetzen. Das jährliche „Festival of Resilience“ von Hillel Deutschland befähigt nicht nur die Betroffenen, ein lebendiges Andenken an die Überlebenden von Halle wachzuhalten, sondern ermöglicht ähnliches auch in Bezug auf die Anschläge in Hanau, Mölln, Rostock Lichtenhagen und den viel zu vielen weiteren.

Die Betroffenen des antisemitischen, frauenfeindlichen und rassistischen Angriffs in Halle entschlossen nur neun Monate später, sich vor einem Magdeburger Gericht zu äußern und sich demjenigen zu stellen, der versucht hatte, sie zu töten. Auch daran soll erinnert werden, wenn wir über den 9. Oktober 2019 reden: An die Resilienz, die sich in Folge des Anschlags bildete und an den Mut, Hass mit Aktivismus zu begegnen. In diesem Zusammenhang möchte ich die weit verbreiteten Worte der deutschen Aktivistin Laura Cazes (Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland) zitieren, die wie keine andere den Zustand der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland am 9. Oktober erfasst hat:

Ich schalte an Jom Kippur mein Handy aus. Mit Sicherheitsvorkehrungen sind wir in der jüdischen Gemeinde jedoch aufgewachsen. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, als ich heute um 14:30 Uhr aus meiner Synagoge in Frankfurt trat und Polizist*innen mit Maschinengewehren vor dem Eingang standen. Neben dem Sicherheitspersonal, das ich seit meiner Kindheit kenne. Ich weiß, was das bedeutet. Wir alle wissen es.

Der Terrorist hat es nicht geschafft, mit seinem Gewehr und mehreren Molotowcocktails die Tür der Synagoge in Halle zu öffnen. Also ging er weiter zu einem türkischen Kebab-Laden und erschoss auf dem Weg dorthin zwei Menschen, die versuchten, ihn aufzuhalten.

Für diejenigen, die nicht glauben, dass es ein weltweit organisiertes Neonazi-Netzwerk gibt, das auf weißer Vorherrschaft basiert: Der Angreifer hat die Schießerei mit seinem Handy gestreamt. Für sein Motiv bediente er sich der gleichen Rhetorik wie der Terrorist von Christchurch: „Der Holocaust hat nicht existiert. Feminismus führt zu niedrigeren Geburtenraten, deshalb gibt es Massenimmigration – und die Wurzel all dieser Probleme ist ‚der Jude (…)‘

Sollte mich jemals wieder jemand fragen, ob ein Polizeiaufkommen vor jüdischen Einrichtungen wirklich notwendig ist – befragen Sie sich selbst: Würden Sie an Weihnachten schwer bewaffnete Polizist*innen vor Ihrer Kirche haben wollen? Glauben Sie, dass es eine Wahl gibt? Haben Sie das Gefühl, dass es beim nächsten Mal auch Sie treffen könnte?

Vor der Synagoge in Halle war keine Polizei anwesend. Außerdem brauchte sie viel zu lange, um am Tatort einzutreffen. In der Zwischenzeit begannen die Menschen in der Synagoge, Barrikaden mit Hilfe von Möbeln zu bauen. Es grenzt an ein Wunder, dass die Jom Kippur-Gebete in Halle nicht in einem grausamen Massaker endeten.

Ein Anschlag wie dieser geht einem nahe, egal wo er passiert. Er hätte überall passieren können. Er hätte auch uns treffen können. Dieser Anschlag war antisemitisch. Aber das Ziel, das der Terrorist aussuchte, nachdem es ihm nicht gelungen war, in die Synagoge einzudringen, macht eines noch deutlicher: Unsere Solidarität muss all jenen gelten, die von weißer Vorherrschaft und damit verbundener Hassideologien betroffen sind. Zwei Menschen sind heute grundlos gestorben.

Ein Gotteshaus ist ein Ort, an dem Menschen Frieden suchen. Das Gefühl des inneren Friedens siegt über das Gefühl der Unsicherheit. Und das jedes Mal, wenn wir ein Gotteshaus aufsuchen. Aber die Trauer bleibt und die Ungewissheit, wie viele Menschen auf der ganzen Welt noch sterben müssen, bis den Hassenden klar wird, dass sie ihren Kampf schon verloren hatten, bevor sie ihn überhaupt begannen.

Heute Abend, zum Ne’ilah, dem letzten Gebet von Jom Kippur, war unsere Synagoge in Frankfurt voll besetzt. Niemand wird uns daran hindern, hinzugehen.
Nicht in die Kirche.
Nicht in die Moschee.
Nicht in die Synagoge.

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