Je suis Charlie, Je suis juif, Je suis policier – vom 7. bis 9. Januar 2015 erschütterte eine Serie von Terroranschlägen, bekannt geworden als „Île-de-France-Anschläge“, Frankreich und die ganze Welt. Den Anfang machte der infame Angriff auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo, bei dem zwölf Menschen getötet wurden. Es folgten mehrere Schießereien mit Einsatzkräften, eine davon am 8. Januar in der Nähe einer jüdischen Schule. Am 9. Januar kam es schließlich zu einem bewaffneten Überfall auf einen Supermarkt für koschere Lebensmittel, mit Geiselnahmen und vier Toten. Ganz Frankreich, ganz Europa war starr vor Schreck. Die Terrorattacken zielten auf die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit und die Religionsfreiheit – und damit auf die Grundwerte Europas. Das kollektive Selbstverständnis kommt auch in den Formen des Gedenkens zum Ausdruck, auf die man sich gesellschaftlich geeinigt hat.
Die internationalen Solidaritätsbekundungen mit den Opfern der Terroranschläge und für die Presse- und Meinungsfreiheit formierten sich unter dem Slogan „Je suis Charlie“. Es kam zwar in der Folge zu vereinzelten Vorwürfen des Rassismus gegen das Magazin, aber ich halte sie für unberechtigt und die Verwendung des Slogans im Zusammenhang mit den Angriffen auch im Rückblick noch für durchaus vertretbar und angemessen.
Eine nicht ganz so große, aber immer noch überaus beträchtliche Anzahl von Menschen versammelte sich unter dem Slogan „Je suis policier“ zur Solidaritätsbekundung mit den Angehörigen der Polizei und des Militärs, die den von der dschihadistischen Al-Qaida koordinierten Terroranschlägen zum Opfer gefallen waren. Unter den Opfern befanden sich auch Muslime, personifizierte und tragische Beweise für die Irrationalität des von den Terroristen verbreiteten Hasses. So weit ich zurückdenken kann, haben Polizei und Militär noch nie zuvor einen so großen Zuspruch erfahren, gerade auch in signifikanten Teilen der antirassistischen Bewegung.
Und was war mit dem Slogan „Je suis juif“? – Diese Frage und der öffentliche Umgang mit den Terroranschlägen hat in der jüdischen Gemeinschaft einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Die Ereignisse vom Januar 2015 markieren einen Wendepunkt für das europäische Judentum. Dazu stellt der folgende Beitrag einige Überlegungen an, „qui était juif?“ – „Wer genau war jüdisch in diesen Tagen?“
Den Terroranschlägen vom Januar 2015 waren andere vorausgegangen, die die jüdische Gemeinschaft in Europa in Angst und Schrecken versetzten und nachhaltig verunsicherten: 2012 die Anschläge auf eine jüdische Schule in Toulouse und das Bombenattentat auf einen Bus in Burgas (Bulgarien) sowie der Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel, bei dem 2014 vier Menschen ums Leben kamen. Der tödliche Antisemitismus breitete sich in Europa aus und forderte zu viele und immer mehr Opfer – aber die breite Öffentlichkeit, so der Eindruck, ignorierte diese Realität des jüdischen Lebens wissentlich.
Bereits seit dem Sprengstoffattentat auf das AMIA-Gebäude in Buenos Aires 1994 hatte sich die jüdische Gemeinschaft auf der ganzen Welt daran gewöhnen müssen, sich hinter Zäune zurückzuziehen. Die genannten Daten sind vielleicht nicht allen Leser*innen vertraut, aber für Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft sind sie fester Bestandteil eines Narrativs, das unsere aktuelle Lage erklärt. In meiner Schule gehörten Übungen zum Verhalten bei Terrorangriffen zum Alltag. Nach dem Attentat auf Hyper Cacher mussten jüdische Einrichtungen ihre Sicherheitsvorkehrungen noch weiter verschärfen. In einigen Ländern werden sie seither von schwer bewaffneten Soldaten bewacht und dadurch in ständige Alarmbereitschaft versetzt. Der Ausnahmezustand ist also nicht etwa auf den 9. Januar 2015 beschränkt oder mit ihm vergangen, sondern vielmehr zum Status quo geworden, der das Leben von Jüdinnen*Juden bis heute prägt. Insofern ist jeder Gang durch die Metalldetektoren eines jüdischen Gemeindezentrums eine stumme Erinnerung an diesen Tag, abgesehen vom Datum selbst.
Die weltweiten Solidaritätsbekundungen, die die Attentate vom Januar 2015 auslösten, und insbesondere die beispiellose Popularität des Satzes „Je suis Charlie“ warf bei einigen Mitgliedern der jüdischen Gemeinschaft die Frage auf, wann endlich auch jüdische Opfer als französische, als europäische Opfer verstanden werden würden. Vor dem Hintergrund der vorangegangen und noch folgenden Ereignisse trug die Art und Weise der damaligen öffentlichen Trauer- und Solidaritätsbekundungen also dazu bei, dass sich ein schaler Nachgeschmack eingestellt hat. Denn in diesem Trauernarrativ war offenbar kein Platz für das Gedenken der jüdischen Opfer oder die bislang und weiterhin ignorierte dauerhafte Alarmbereitschaft, in der die jüdische Gemeinschaft lebt. Der 9. Januar markiert dabei nur ein Ereignis aus einer langen Serie von Vorfällen, deren Ende nicht absehbar ist und die ihre Spuren im Erscheinungsbild unserer Gebetshäuser und Kindergärten hinterlassen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Das Unbehagen entstand nicht etwa aus der vermeintlichen Konkurrenz verschiedener Opfergruppen um die öffentliche Aufmerksamkeit. Er stellte sich vielmehr ein, weil die Attentate auf den jüdischen Supermarkt in gleich mehreren öffentlichen Stellungnahmen relativiert wurden: Diese seien angeblich auf den israelisch-palästinensischen Konflikt und die daraus resultierenden angespannten Beziehungen zurückzuführen. So entstand in Teilen der jüdischen Gemeinschaft der Eindruck: Der Angriff auf Frankreich wurde als Angriff auf ganz Europa empfunden, das sich in Solidarität zusammenschloss – aber die Attentate auf die jüdische Gemeinschaft als Sonderereignis ausgeklammert, sodass sie auch nicht in die kollektive Erinnerung eingehen würden.
Ein Blick auf die öffentliche Debatte in den Tagen nach den Anschlägen hilft, diesen Eindruck besser zu verstehen. Die angespannten Beziehungen gipfelten darin, dass einer der bekanntesten französischen Komiker, Dieudonné M’bala M’bala, am 10. Januar auf Facebook postete: „Je me sens Charlie Coulibaly“ („Was mich betrifft, ich bin Charlie Coulibaly“). Dabei vermischte er den Namen der Satirezeitschrift und den Slogan „Je suis Charlie“ mit dem Namen von Amedy Coulibaly, einem der Attentäter, die an dem Anschlag auf den koscheren Supermarkt beteiligt waren: Also neben dem Zuspruch zur Solidarität mit Charlie Hebdo auch Sympathie für einen islamistischen Mörder und ausdrücklich nicht für dessen unschuldige Opfer – weil es sich dabei um Jüdinnen*Juden handelte. Dieser Satz hat Spuren hinterlassen. Die Termine für die Trauerfeiern waren noch nicht festgesetzt, schon hatte ein Komiker, der mit seinen Auftritten regelmäßig Stadien füllt, die Opfer öffentlich geschändet. Die spätere Verurteilung M’balas für seine Äußerung wiegt nicht auf, dass er als Sprachrohr seiner riesigen Fangemeinde, aber auch zahlreicher, ihrem Selbstverständnis nach antirassistischen politischen Aktivisten gelten kann. Es war, als hätte er laut ausgesprochen, was viele andere klammheimlich dachten.
Noch etwas ist in diesem Zusammenhang wichtig: Bereits vor seinem Facebook-Post war M’bala mehrfach vor großem Publikum mit Ausfällen gegen die jüdische Gemeinschaft auffällig geworden: Erwähnt sei hier etwa sein Song „Shoananas“, in dem er das Gedenken an den Holocaust verspottete, oder sein „Quenelle“ genannter umgekehrter Hitlergruß, der, wie vielleicht der eine oder die andere sich erinnern wird, von berühmten Fußballspielern beim Torjubel nachgeahmt wurde; oder von Schulkindern, die sich beim Auschwitz-Besuch in der Pose fotografierten und die Bilder in sozialen Medien verbreiteten. Die Grußgebärde – der rechte Arm wird mit der Handfläche nach unten ausgestreckt, die andere Hand legt sich quer auf Oberarm oder Schulter – tauchte auf Fotos von Geburtstags- und Hochzeitsfeiern auf, und auch Jean-Marie Le Pen ließ sich bei der Ausführung der angeblich „antizionistischen, nicht antisemitischen“ Geste ablichten. M’bala betätigte sich außerdem politisch und trat als Kandidat bei mehreren Wahlen an, unter anderem zweimal für das Europaparlament.
Mit seinen Diffamierungen der jüdischen Gemeinschaft vor großem Publikum erweiterte er die Grenzen dessen, was als zulässige Äußerung auf der Bühne durchgehen konnte. Mit jedem Gerichtsverfahren aufgrund antisemitischer Äußerungen wuchs sein Ruhm, und die Zahl der verkauften Eintrittskarten stieg. Der Tag nach dem Angriff auf den Hyper Cacher markiert zwar den Beginn von systematischen Anstrengungen, M‘bala aus dem öffentlichen Leben zu verbannen – die sich über fünf Jahre hinzogen –, aber wenn ich auf die Ereignisse dieses 9. Januars zurückblicke, hallt auch das ohrenbetäubende Schweigen in mir nach, auf das die Proteste der jüdischen Gemeinde gegen ihn in den Jahrzehnten zuvor gestoßen waren. Dabei geht es nicht um die Person M‘balas, sondern um den vorherrschenden öffentlichen Diskurs, in dem getötete Jüdinnen*Juden jahrelang unter die Kategorie „Proteste gegen die Politik des israelischen Staates“ fielen. M’bala verkörpert lediglich eine in der europäischen Öffentlichkeit weithin akzeptierte Denkweise, die jüdisches Leben, das Leben europäischer Bürger, abwertet, indem sie ihre Ermordung mit Blick auf den Staat Israel relativiert. Wenn wir nach einer Erklärung dafür suchen, warum niemand den Slogan „Je suis juif“ postete, als jüdische Kinder vor ihrer Schule in Toulouse ermordet wurden, und warum Teile der jüdischen Gemeinschaft nicht recht wussten, was sie von der Solidaritätskampagne 2015 halten sollten, dann gehört auch dies zur bitteren Wahrheit.
Als Reaktion auf die Ereignisse vom 9. Januar 2015 hat das europäische Judentum sein Narrativ und seine politischen Forderungen drastisch verändert und politische Maßnahmen auf nationaler wie internationaler Ebene ergriffen, z. B. in Form von Gesetzesinitiativen. Selbst die sehr kleine Gruppe, die sich als Teil der jüdischen Diaspora versteht, fällt es mit Blick auf Frankreich schwer, ihre Behauptung der Assimilation aufrechtzuerhalten. Die politische Rechte hingegen behauptete, das Judentum habe in Europa keine Zukunft – ein Narrativ, gegen das sich das französische Judentum entschieden zur Wehr setzte. Bevor Benjamin Netanjahu seine Rede bei der Gedenkveranstaltung in der Großen Synagoge von Paris hielt, beschwor der französische Oberrabbiner Haïm Korsia den israelischen Ministerpräsidenten, er möge nicht offen zur Alija aufrufen. Ein Aufruf zur Auswanderung würde, wie Korsia zuvor in einem Interview erklärte, die französische jüdische Gemeinde „vor große Probleme“ stellen. Der Wortlaut von Netanjahus Rede mag auf diese Sorge Rücksicht genommen haben. Man muss wissen, dass die jüdische Auswanderung aus Frankreich in den letzten zehn Jahren einen immer wieder neuen Höchststand erreicht hat, wobei der Antisemitismus wohl eine der wichtigsten Ursachen darstellt.
Wie wir heute wissen, folgten weitere Attentate in Frankreich auf das Pariser Bataclan und in Nizza, aber auch in Spanien und anderen europäischen Ländern. Ich weiß noch allzu gut, dass ich mich nach dem Terroranschlag auf das Bataclan eine ganze Woche lang zu Hause einschloss, während die Brüsseler Polizei dabei war, das Netzwerk hinter den Attentätern in meinem Wohnviertel aufzuspüren. Wir durften unsere Büros bei der European Union of Jewish Students nicht betreten, unsere Wohnung nicht verlassen und unser Telefon nicht benutzen, weil wir zur Zielscheibe geworden waren. Ganz Brüssel war über eine Woche lang abgeriegelt. Bald darauf kam es auch in Deutschland zu Attentaten – auf dem Berliner Breitscheidplatz, in Halle und Hanau.
Der islamistisch oder rechtsextrem motivierte Terrorismus konfrontierte die europäische Gesellschaft mit einer Realität, die der jüdischen Gemeinschaft bereits seit Jahren nur allzu vertraut war. Wenn ich diese beiden Ideologien sowie die von ihnen verursachten Anschläge in einem Satz nebeneinanderstelle, tue ich das keineswegs, um sie gleichzusetzen, sondern weil sie beide gleichzeitig dasselbe Ziel ins Visier nehmen. Daher sollte Europa sich auch die Folgen eines Gedenkens bewusst machen, das sich kollektiv hinter die Opfer von Charlie Hebdo stellt, das Attentat auf den Hyper Cacher aber den Jüdinnen*Juden überlässt. Denn die meisten der oben genannten Attentate bergen die Gefahr, dass das Gedenken an sie Marginalisierungsprozesse zur Folge haben kann. Deshalb ist es auch so wichtig, mit dem Slogan „Je suis Charlie“ die Île-de-France-Anschläge und die Ereignisse des 9. Januar in ihrer Gesamtheit anzusprechen und sich ihrer kollektiv zu erinnern.
An der Form des Gedenkens an den 9. Januar in der jüdischen Gemeinschaft zeigt sich meines Erachtens auch noch in anderer Weise, wie Gemeinschaften von innen heraus kollektiven Zusammenhalt und Resilienz aufbauen können: indem sie das kollektive Gedenken am eigenen moralischen Kompass ausrichten. Im Juni 2015 wurde Lassana Bathily von mehreren internationalen jüdischen Organisationen für seine Zivilcourage ausgezeichnet und sie verbinden die Erinnerung an den 9. Januar seitdem mit seinem Namen. Bathily, damals 24 Jahre alt, hielt sich im Untergeschoss des Supermarkts auf, als der Bewaffnete den Laden stürmte. „Ihr seid Juden und Franzosen, die beiden Dinge, die ich am meisten auf dieser Welt hasse“, rief der Geiselnehmer, bevor er das Feuer eröffnete. Bathily, ein in Mali geborener Muslim, führte die Kunden, die sich bereits in den Keller geflüchtet hatten, in einen Kühlraum, wo sie sich während der vierstündigen Belagerung vor dem Geiselnehmer in Schutz bringen konnten. Die kollektive Reaktion der jüdischen Gemeinschaft auf einen islamistischen Anschlag bestand also darin, Bathilys Heldentat zu feiern und antimuslimischem Hass bewusst keinen Raum zu geben. Das ist die Art und Weise, wie ich des Jahrestages der Attentate zu gedenken versuche.
Im Gedenken an Philippe Braham, 45, Yohan Cohen, 22, Yoav Hattab, 21 François-Michel Saada, 64 und die 13 weitere Opfer, die bei den Anschlägen auf der Île-de-France ermordet wurden. Möge ihr Andenken zum Segen gereichen, Yehi Sichronam Baruch.