Der Beitrag ist in Kooperation mit der taz – die tageszeitung entstanden.
„Sie sind hier willkommen“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang April im Bundestag. Er meint die Menschen, die vor dem russischen Angriffskrieg aus der Ukraine fliehen. Mehr als 700.000 Geflüchtete haben die deutschen Behörden nach drei Monaten der Kämpfe erfasst. Und tatsächlich ist die Solidarität groß: Deutschland und die anderen EU-Staaten haben mit der sogenannten Massenzustromrichtlinie erstmals EU-weit ein Instrumentarium genutzt, um den Ukrainer*innen schnell und unbürokratisch Schutz bieten zu können. Sie müssen keinen Asylantrag stellen, kein langwieriges Prüfverfahren durchstehen. Es ist klar: Wer vor diesem völkerrechtswidrigen Krieg flieht, bekommt Unterstützung.
Es ist genau das, was in einer solchen Situation wie der des Ukraine-Kriegs getan werden muss. Dass es tatsächlich getan wurde, ist bemerkenswert. Ob diese Hilfsbereitschaft Bestand hat, ob sie letztlich gar einen Paradigmenwechsel hin zu einer humaneren Flüchtlingspolitik einläutet, das ist bislang offen. Denn so sehr Deutschland sich seit Jahrzehnten gerne seiner Menschlichkeit gegenüber geflüchteten Menschen rühmt, so gerne das Land betont, immer einen Hauptteil der Last zu tragen – so sehr ist es doch auch wahr, dass Deutschland auf große Fluchtbewegungen in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder mit Verschärfungen des Asylrechts reagiert hat.
Vor 29 Jahren, am 26. Mai 1993, stimmte der Bundestag über jene Grundgesetzänderung ab, die lapidar als „Asylkompromiss“ in Erinnerung blieb. Dabei war das, was die Parlamentarier*innen damals beschlossen, ein tiefer Einschnitt in die Grundrechte in Deutschland. Und der wirkt bis heute nach.
Ein einklagbares Grundrecht auf Asyl
„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Dieser Satz fand seinen Weg 1949 nicht zufällig ins deutsche Grundgesetz, als Teil des Artikels 16. Er war eine der Konsequenzen aus den Menschenrechtsverbrechen des Nationalsozialismus und der bitteren Erkenntnis, dass damals viel zu viele, die zu fliehen versuchten, an verschlossenen Grenzen scheiterten. Die Bundesrepublik schrieb damals ein einklagbares Grundrecht auf Asyl fest.
Ein Grundrecht, das aber nur so lange Bestand hatte, bis Menschen es tatsächlich in Anspruch nahmen. In den 1990er Jahren stiegen die Zahlen Asylsuchender stark an. Die Menschen flohen vor den Kriegen auf dem Balkan, den Bürgerkriegen im Kongo oder in Burundi oder aus der zerfallenden Sowjetunion. 1992 stellten fast 440.000 Menschen einen Asylantrag – etwa doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Die Kommunen waren auf die Versorgung und Unterbringung so vieler Menschen nicht vorbereitet.
Plötzlich war von „Asylmissbrauch“ die Rede. Immer wieder griffen Rechte und Neonazis die Unterkünfte von Asylsuchenden und Vertragsarbeiter*innen an. In Hoyerswerda beteiligten sich 1991 bis zu 500 Menschen an den rassistischen Ausschreitungen, die Polizei stoppte sie nicht. Im August 1992 belagerten in Rostock-Lichtenhagen über 1.000 Rassist*innen und Rechtsextreme mehrere Tage lang die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber*innen und das „Sonnenblumenhaus“, ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter. Sie warfen Molotowcocktails und steckten das Wohnhaus, in dem sich über 100 Menschen befanden, in Brand. Die Polizei ließ sie lange gewähren, die Feuerwehr hatte zunächst keinen Zugang zum Haus. Nur durch Glück gab es keine Toten.
Gegen „Asylmissbrauch“
Politik und Gesellschaft reagierten entsetzt. Schnell machten sie Schuldige aus. Diese fanden sie aber nicht etwa in den Gewalttäter*innen. Berndt Seite, CDU-Politiker und damals Ministerpräsident in Mecklenburg-Vorpommern, erklärte noch während der Ausschreitungen auf einer Pressekonferenz: „Die Vorfälle der vergangenen Tage machen deutlich, dass eine Ergänzung des Asylrechts dringend erforderlich ist, weil die Bevölkerung durch den ungebremsten Zustrom von Asylanten überfordert wird.“ Rückendeckung bekam er von seinem Parteikollegen Rudolf Seiters, damals Bundesinnenminister: „Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts“, erklärte dieser. Er hoffe, dass die SPD nun endlich bereit sei, den Weg frei zu machen für eine Grundgesetzänderung – dafür brauchte es damals wie heute eine Zweidrittelmehrheit im Parlament.
Und die Sozialdemokrat*innen waren bereit. Trotz massiver Gegenproteste aus der Zivilbevölkerung beschloss das Parlament am 26. Mai 1993 mit den Stimmen der Regierungsfraktionen Union und FDP, aber auch der oppositionellen SPD mit großer Mehrheit eine Neuregelung des Asylrechts, um „Asylmissbrauch“ zu verhindern: 521 Abgeordnete stimmten dafür, gerade mal 132 dagegen.
Der Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ wurde als Artikel 16a durch so viele Zusätze ergänzt, dass heute kaum noch ein Mensch die Möglichkeit hat, sich darauf zu berufen. Keinen Anspruch auf Asyl hat, wer aus einem sogenannten sicheren Herkunftsstaat einreist, oder wer auf seiner Flucht nach Deutschland über ein Land einreist, das als sicher eingestuft ist. Und hierzu zählt jedes einzelne EU-Land.
Für Deutschland, in der Mitte der EU gelegen, eine bequeme Lösung. Heutzutage erhält weniger als ein Prozent der Asylbewerber*innen Schutz über die Regelung im Grundgesetz. Stattdessen sind es die Genfer Flüchtlingskonvention und das EU-Recht, die zum Tragen kommen.
Leichtfertiger Umgang
Die deutsche Entscheidung zum Asylrecht hatte Folgen. Deutschland lagerte seine Verantwortung auf die Nachbarländer aus, diese folgten dem Beispiel. Heute gilt im EU-Asylrecht die Dublin-Regelung: Menschen müssen in dem Land Asyl beantragen, in dem sie die EU betreten haben. Das Problem wird an die Ränder geschoben – und längst ist aus der EU die „Festung Europa“ geworden, an deren Seegrenzen jedes Jahr Tausende Schutzsuchende ertrinken.
Vor allem aber erfolgte eine Schuldumkehr, die in den letzten Jahren immer wieder zu beobachten war: Wenn Deutschland keine Strukturen schafft, um Schutzsuchende menschenwürdig unterzubringen und ihre Asylanträge zu bearbeiten, dann ist daran nicht die deutsche Politik und Verwaltung Schuld – sondern diejenigen, die Schutz suchen. Und wenn ihr Leben bedroht wird von RassistInnen und Rechtsextremen, dann sind auch sie selber Schuld – weil zu viele von ihnen es gewagt haben, zu fliehen.
Wie heute gab es auch in den Jahren ab 2015, als Menschen vor dem grausamen Bürgerkrieg in Syrien flohen oder vor Tod und Gewalt in Afghanistan, zunächst große Offenheit und Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft. Doch man denke an den ehemaligen CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, der schon bald von „Asyltourismus“ sprach, und an den ehemaligen Innenminister Horst Seehofer der Migration die „Mutter aller Probleme“ nannte. Und man denke an unzählige Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, an Hetzjagden in Chemnitz, an „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands“ und den Aufstieg der AfD – und wie die Bundesregierung darauf mit einer Asylrechtsreform reagierte, der Kritiker*innen mit Blick auf die vielen Verschärfungen zurecht den Spitznamen „Hau-ab-Gesetz“ gaben.
Die aktuellen Verbesserungen gelten bislang nur für Ukrainer*innen und Menschen mit dauerhaftem Aufenthaltstitel in der Ukraine. Doch die Ampelkoalition hat in ihrem Koalitionsvertrag viele Verbesserungen versprochen. Einen „Neuanfang“ und einen „Paradigmenwechsel“ in der Migrations- und Integrationspolitik hat sie angekündigt. Doch das war, bevor nun erneut Hunderttausende auf der Flucht vor Krieg und Gewalt Schutz in Deutschland suchen.
Aktuell gilt es sich also zu erinnern, wie leichtfertig Deutschland 1993 das Grundrecht auf Asyl in die Bedeutungslosigkeit verbannte. Denn ob die Bundesregierung ihr Versprechen einer humaneren Asylpolitik hält, hängt auch davon ab, mit welcher Vehemenz die Zivilgesellschaft das einfordert.