Am 31. Oktober 1984 wurden in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi während eines vier Tage wütenden Pogroms mindestens 3.000 Sikhs getötet. Als Anlass für das Massaker wird üblicherweise die Ermordung der damaligen Premierministerin Indira Gandhi durch ihre der Sikh-Religion angehörigen Personenschützer genannt. Die Gewalt brach jedoch nicht nur entlang der religiösen Spaltung der Stadtgesellschaft aus, sondern traf die ärmeren Außenbezirke Delhis mit besonderer Härte. Sikh-Männer wurden von Mobs auf die Straßen gezwungen und auf brutalste Art und Weise ermordet. Viele Sikh-Frauen wurden Opfer sexualisierter Gewalt. Häuser wurden geplündert.
Schweigen und Untätigkeit
Seine erschreckenden Ausmaße konnte das Blutbad erst durch seine Legitimation seitens politischer Würdenträger, durch die Untätigkeit der Polizei und die damit verbundene Perspektive auf Straflosigkeit erreichen – eine Perspektive, die sich in den Jahren nach dem Massaker verwirklichen sollte. Selbst nach drei Jahrzehnten wurde nur ein verschwindender Teil der Täter und Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen. Stattdessen stellte die Polizei die Untersuchung von Hunderten von Fällen aus Mangel an Beweisen ein.
Chaurasiye oder 84-ers – Kollektiv eines Traumas
Das Bewahren der Erinnerung an den November 1984 sowie das Beharren auf Gerechtigkeit für seine Opfer fällt also vor allem Überlebenden und ihren Nachfahren zu. Beispielhaft sind die zahlreichen Witwen in Tilak Vihar zu nennen, welche unter den zunächst negativ besetzten Namen „Chaurasiye“ oder 84-ers bekannt werden sollten – ein Name, der sich für die Überlebenden des Pogroms zu einer neuen Art kollektiver Identität entwickelte.
Die traumatische Erfahrung dieser Überlebenden wurde durch eine spezifisch indische Form des multiperspektivischen Erinnerns jedoch auch weiter in die Gesellschaft hineingetragen. Vorrangig gelang dies durch seine Verknüpfung mit dem Gedenken an die Massaker der Teilung von 1947.
In den letzten Jahren erschien außerdem eine Reihe von Spiel- und Dokumentarfilmen, welche das Massaker zum Thema hatten. Der Spielfilm „Amu“ von Shonali Bose feierte z. B. seine Premiere auf der Berlinale 2005 und wurde als Eröffnungsfilm des Internationalen Frauenfilmfestivals 2006 in Köln gezeigt. Damit verhalf er dem ungesühnten Pogrom 20 Jahre später zu internationaler Aufmerksamkeit.
Forderung von Inklusion in die nationale Erinnerungskultur
Für die Betroffenen und ihre Nachfahren steht jedoch der Ruf nach Gerechtigkeit an erster Stelle, der über die bloße Repräsentation ihrer Erfahrungen und die ihnen vom indischen Staat angebotenen finanziellen „Entschädigungen“ hinausgeht. Erst danach eröffne sich eine wirkliche Chance auf ein besänftigtes Gedenken.[20]