Massenverhaftung von Pariser Jüdinnen*Juden im Vélodrome d‘Hiver

Andrea Hanna Hünniger

Französische Beamt*innen haben den deutschen Besatzer 1940/44 mehr Jüdinnen*Juden ausgeliefert, als die Nazis verlangt hatten. Der Schock über diese Erkenntnis zwingt Frankreich, sich mit der verdrängten Vergangenheit jener Jahre zu beschäftigen: mit dem Marschall Philippe Petain, der Frankreich unter deutscher Herrschaft von der Stadt Vichy aus regierte, und seinem autoritären, antisemitischen Regime. Aber Frankreich tut sich schwer mit den eigenen Verbrechen. Zu einem der größten zählt dabei die Massenverhaftung von Pariser Jüdinnen*Juden am 16. Juli 1942.

Französische Polizisten haben damals in Paris fast 13.000 Jüdinnen*Juden festgenommen und in der alten, inzwischen abgerissenen Radsporthalle „Vélodrome dHiver” unter unmenschlichen hygienischen Bedingungen eingesperrt, bevor sie ihre Gefangenen den Deutschen auslieferten. Ziel: Auschwitz. Die Lage im Vélodrom war katastrophal. Unter der Hitze der Julisonne fehlte es an Wasser und Nahrung. 13.000 weinende Menschen. Die Stimmung wird später von überlebenden als dämonisch beschrieben.

Allein in zwei Tagen hatte man 12.884 Menschen festgenommen, von denen mehr als 8.000 im Vélodrome interniert wurden. Die anderen wurden in das Lager Drancy deportiert. Der „Fleiß“ der Franzosen ist bis heute Teil der düstersten Phase der französischen Kollaboration mit den Nazis.

Die Franzosen wurden allmählich mit dem Ungeheuerlichem vertraut gemacht: dass ihre Landsleute im Einsatz gegen Jüdinnen*Juden seinerzeit viel größeren Eifer zeigten, als die deutschen Besatzer von ihnen verlangt hatten. Kinder unter 16 Jahren etwa waren von den Deutschen bis dahin gar nicht zur Deportation vorgesehen – dennoch wurden 4.000 in das Vélodrome gebracht und später vergast.

Die Neuigkeit von der vorauseilenden Übererfüllung deutschen Verlangens stürzt viele Franzosen in den Abgrund ihrer unverarbeiteten Vergangenheit. Wieso hat kein anderes von den Deutschen besetztes Land außer Frankreich eine derartige Willfährigkeit gegenüber den Okkupanten an den Tag gelegt? „Frankreich im Angesicht seiner Verbrechen“ heißt am 16. Juli 1992 die Schlagzeile der Zeitung Liberation.

Ein Schock erfasst die Nation. Nun erst wird ihr bewusst, was Vichy hinterlassen hat: ein Trauma, das in 80 Jahren Nachkriegszeit nicht annähernd bewältigt wurde. „Philippe Petain und das Vichy-Regime sind das große schwarze Loch in der französischen Geschichte“, sagt der Filmproduzent Jacques Kirsner, der derzeit in Vichy den ersten französischen Petain-Film drehen lässt.

In Paris fordert 1994 Anwalt Serge Klarsfeld, Präsident des „Verbands der Söhne und Töchter jüdischer Deportierter Frankreichs”, von Staatschef Francois Mitterrand ein eindeutiges Schuldanerkenntnis im Namen Frankreichs. Aber damit kommt er bei Mitterrand schlecht an. Einen „Tag der nationalen Scham“ werde er nicht verordnen, sagt der Staatschef seinen Mitarbeitern, und im Fernsehen erklärt er, die Französische Republik sei für Vichy nicht verantwortlich.

Das ist Geschichtsklitterung von beinahe Kohlschem Format und nicht mal formell richtig: Im Sommer 1940, nur 22 Jahre nach Frankreichs Triumph über Deutschland im Ersten Weltkrieg, bricht dasselbe Land nach nur sechs Wochen unter dem Ansturm von Hitlers Wehrmacht zusammen – ein Debakel „ohnegleichen in der Geschichte der großen zeitgenössischen Staaten“, schreibt der französische Historiker Henry Rousso in seinem Buch „Das Vichy-Syndrom von 1944 bis heute“. Bis heute tut sich Frankreich mit der Schuld der Vichy Regierung schwer. Schon während der Besatzung nannte man Paris die „Stadt ohne Blick“.

Zurück zum Pluralistischen Gedenkkalender