no one leaves home unless
home is the mouth of a shark
you only run for the border
when you see the whole city running as well
[…]
you have to understand,
that no one puts their children in a boat
unless the water is safer than the land
[…]
Warsan Shire
In den frühen Morgenstunden des 2. Septembers 2015 drängten sich sechzig Menschen in ein kleines Schlauchboot am Strand von Bodrum in der Türkei. Ihr Ziel war die griechische Insel Kos, dreißig Minuten entfernt. Nicht einmal fünf Minuten waren sie auf dem Wasser als das Boot anfing zu sinken. Um fünf Uhr morgens startete die Suchmission, nachdem ein Notruf eingegangen war. Lebende wie Tote würden im Laufe der nächsten Stunden an den Strand gespült werden. Die Fotojournalistin Nilüfer Demir wird später sagen, es hätte wie ein Kinderfriedhof ausgesehen. Von den vielen Bildern, die sie aufnahm, wurde eins weltberühmt: Ein kleiner Junge in einem roten T-Shirt, blauen Shorts, die Schuhe noch an den Füßen, lag mit abgewendetem Gesicht am Strand, nah der Wasserlinie. Man hätte denken können er schliefe.
Der kleine Junge hieß Alan Kurdi und wurde 2012 in Kobanê geboren, einer Stadt in Syrien nahe der türkischen Grenze. Die Stadt war Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen den kurdischen Streitkräften und dem sogenannten Islamischen Staat (IS).
Die gewaltvolle Unterdrückung und die Eskalation des Syrischen Frühlings zwang Millionen von Syrer*innen, einschließlich der Familie von Alan Kurdi, zur Flucht und der Suche nach Zuflucht in Nachbarländern und Europa. Nach der Ablehnung des Asylantrags in Kanada unternahm die Familie Kurdi mehrere erfolglose Versuche, aus der Türkei nach Griechenland zu gelangen. Der letzte endete mit dem Tod von Alan, seinem Bruder Galip und ihrer Mutter Rehana. Nur der Vater, Abdullah Kurdi, überlebte. Er kehrte nach der Tragödie nach Syrien zurück, um seine Familie zu begraben.
Der Tod des zweijährigen Alan Kurdi führte zu starken Protesten in Europa und übte massiven Druck auf die Politik aus, sodass sich auch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel am 05. September 2015 für eine temporäre Grenzöffnung entschied. Dies wäre ohne die Mobilisierung von People on Move[1] und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen nicht denkbar gewesen. Denn schon in den Jahren zuvor führten Schiffsunglücke zu politischen Konsequenzen, die zum Beispiel in der italienische Marineoperation Mare Nostrum oder der Entstehung der zivilen Seenotrettung mündeten.
In diesem Kontext lässt sich der Tod von Alan Kurdi also als Höhepunkt der Entrüstung über die unmenschliche Migrationspolitik betrachten, der die Grenzöffnung als historische, wenn auch nur temporäre „Niederlage des europäischen Grenzregimes“[2] bewirkte. Schaut man sich jedoch den derzeitigen politischen wie gesellschaftlichen Umgang mit Geflüchteten an, so scheint nicht viel von der damaligen Empathie und Entrüstung übrig geblieben zu sein.
Wie gedenkt man also einem Kind, das nicht einmal drei Jahre alt wurde und dessen Tod repräsentativ für das Leid anderer Kinder und Erwachsene auf der Flucht steht?
Eine Antwort zu formulieren, fällt schwer. Eins sollte jedoch klar sein: Ein Gedenken, welches nicht die unbarmherzige Logik einer geregelten Migrationspolitik aufdeckt und die Schuldigen der europäischen Grenzpolitik verurteilt, wird den Toten und ihren Hinterbliebenen nie gerecht werden. Jeder Tod eines Kindes oder Menschen an den europäischen Grenzen sollte dieselbe emotionale und politische Entrüstung herbeiführen wie der Tod von Alan Kurdi.
[1] „People on the Move“ wird in den Migrationsbewegungen oft als Alternative zu rechtlichen Kategorisierungen oder umgangssprachlichen Begriffen genutzt, die oft als abwertend oder juristisch zu spezifisch empfunden werden.
[2] Hess, S., Kasparek, B., Kron, S., Rodatz, M., Schwertl, M. & Sontowski, S. (2016). Der lange Sommer der Migration: Krise, Rekonstitution und ungewisse Zukunft des europäischen Grenzregimes. In S. Hess, B. Kasparek, S. Kron, M. Rodatz, M. Schwertl, S. Sontowski (Eds.), Grenzregime III. Der lange Sommer der Migration. Berlin: Assoziation A. S. 6.