Gedenken an die Anschläge des 11. September 2001

Ahmad Milad Karimi

Am 11. September 2001 wurde die Welt durch eine Serie der Terroranschläge erschüttert, deren Echo bis heute nachhallt. Es war ein Tag, der die Fragilität der modernen Gesellschaft auf eine Weise offenbarte, wie wir es nie für möglich gehalten hätten. Vier Flugzeuge, entführt von Mitgliedern der terroristischen Gruppe Al-Qaida unter der Führung von Osama bin Laden, flogen in die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York City, ins Pentagon in Washington, D.C. und ein weiteres stürzte in einem Feld in Pennsylvania ab. Diese Angriffe forderten 2.996 Menschenleben und wurden zu einem Symbol der Verwundbarkeit und des Schreckens in einer globalisierten Welt, die seitdem den Ausnahmezustand als Normalzustand versteht. Doch der 11. September zeigte mir, dass diese Verwundbarkeit nicht auf Afghanistan, nicht auf den Nahen Osten beschränkt war – sie war global. Niemand war sicher. Der Terror konnte jeden treffen, überall, zu jederzeit. Damit ist der 11. September (9/11) zu einem Topos des Schreckens geworden, zu einer Zäsur unserer Zeit.

Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag, an die Bilder, die über die Bildschirme flimmerten, an die ungläubigen Gesichter der Menschen um mich herum. Für mich, der ich selbst aus Afghanistan geflüchtet bin, war dieser Tag besonders schmerzhaft. Nicht nur, weil unschuldige Menschen auf so brutale Weise ihr Leben verloren, sondern auch, weil die Welt sich plötzlich noch dunkler, unsicherer und zerrissener anfühlte.

Doch inmitten all des Schreckens, der Zerstörung und des unermesslichen Leids, das dieser Tag mit sich brachte, müssen wir innehalten und fragen: Was genau bleibt uns von diesem Tag, wenn sich der Rauch gelegt hat und die Trümmer beseitigt sind?

Jeder, der damals lebte, erinnert sich genau, wo er war und was er tat, als die Nachricht die Runde machte. Diese Orte und Momente sind tief in uns eingebrannt, als wären sie in der Zeit eingefroren. Doch genau hier liegt das Problem: Wenn wir unsere Erinnerung nur auf diesen Schrecken und diese Erstarrung reduzieren, laufen wir Gefahr, uns dem zu unterwerfen, was die Terroristen erreichen wollten. Der Terror will uns nicht nur Angst einflößen, sondern unsere Erinnerung bestimmen, sie einfrieren, die Vielfalt der menschlichen Erfahrung verengen. Die Sprache des Terrors ist vereinfachend, verzerrend, binär: wir und die anderen, Täter und Opfer, Gläubige und Ungläubige.

2.996 ist keine bloße Zahl, keine fühlbare und wirkliche Größe in unserer Vorstellung.  So viele Leben wurden an diesem Tag ausgelöscht. Es geht um jeden Einzelnen, um jede Geschichte, die durch diese Tat gewaltsam beendet wurde. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Menschen nur als Zahlen in die Geschichtsbücher eingehen. Ihre Leben, ihre Träume, ihre Hoffnungen und die Spuren, die sie hinterlassen haben, all das ungelebte Leben, all die uneingelösten Versprechungen, müssen in unserer Erinnerung der Gegenwart Eingang finden. Ihre Geschichten sind es, die wir lebendig halten müssen – nicht als Symbol des Schreckens, sondern als Ausdruck der Menschlichkeit, die der Terror zerstören wollte.

Eine wehrhafte Erinnerungskultur muss sich gegen die Reduktion auf Zahlen und erstarrte Momente wehren. Sie muss der Verengung der Erinnerung, die der Terror uns aufzwingen will, entschlossen entgegentreten. Stattdessen sollte sie die Vielfalt der Perspektiven einfangen, die an diesem Tag und in den Jahren danach eine Rolle gespielt haben. Es geht darum, eine Erinnerungskultur zu etablieren, die die Gegenwart mitgestaltet – eine Kultur, die die Stimmen und Geschichten der oft Überhörten einbezieht. In einer pluralen Gesellschaft müssen wir sicherstellen, dass wir nicht nur die schrecklichen Ereignisse des 11. September in Erinnerung behalten, sondern sie gleichzeitig auch in den öffentlichen Diskurs einbetten.

Es liegt an uns, die Erstarrung zu überwinden, die dieser Tag über die Welt gebracht hat. Wir dürfen nicht in den eingefrorenen Bildern verharren, die der Schrecken in uns hinterlassen hat. Stattdessen müssen wir eine Erinnerungskultur entwickeln, die sich dem Terrorismus widersetzt, indem sie Vielfalt und Menschlichkeit in den Mittelpunkt stellt. Es ist nicht entscheidend, wo wir uns am 11. September 2001 befanden – entscheidend ist, wie wir die Welt seit diesem Tag gestalten.

Der Terrorismus, wie er am 11. September inszeniert wurde, verfolgt mehr als nur das unmittelbare Ziel der Zerstörung. Er ist ein Angriff auf unsere Lebensweise, auf die Grundfesten unserer Zivilisation und auf die Prinzipien von Freiheit und Pluralität, die uns als Gesellschaft prägen. Die Terroristen wollten nicht nur hochragende Gebäude zum Einsturz bringen oder Menschenleben auslöschen – sie wollten unsere Seelen vergiften. Sie strebten an, uns in einen Zustand des permanenten Ausnahmezustands zu versetzen, in dem Angst und Misstrauen unseren Alltag bestimmen. Ein Zustand, in dem die Vielfalt, Offenheit und Toleranz, die unsere Gesellschaften stark machen, durch ein Klima der Bedrohung und des Hasses ersetzt werden. Wir erinnern uns, dass der damalige US-Präsident Georg W. Bush den „Krieg gegen den Terror“ ausgerufen und den nicht mehr endenden Ausnamezustand ausgerufen hat. Terror produziert Krieg. Und Krieg?

Die Profiteure dieser Ideologie sind die Populisten, die sich nicht nur der Sprache der Angst und der Trennung bedienen, sondern auch auf fixe Erinnerungen bestehen. Stattdessen müssen wir eine Erinnerungskultur pflegen, die sich bewusst gegen die Einengung des Denkens und Fühlens stellt, die der Terror beabsichtigt. Eine Kultur, die sich der Pluralität verschreibt und aus der Erfahrung des Schreckens eine neue, gestärkte Haltung schöpft. Erinnern bedeutet, sich der Gegenwart bewusst zu sein.

Die Anschläge haben nicht nur 2.996 unschuldigen Menschen das Leben gekostet und Tausende weitere verletzt. Sie haben auch die Fragilität unserer Welt offengelegt – eine Welt, in der keine Gesellschaft, keine Kultur und kein Individuum immun gegen solche Attacken ist. Doch eben diese Erkenntnis sollte uns nicht in Furcht erstarren lassen, sondern uns dazu ermutigen, mit umso größerer Entschlossenheit die Werte zu verteidigen, die der Terror angreifen wollte: Menschlichkeit, Solidarität, Respekt vor der Vielfalt.

Eine pluralistische Erinnerungskultur bedeutet, sich bewusst zu entscheiden, den Schrecken nicht zum alleinigen Leitmotiv unseres Gedenkens zu machen. Es bedeutet, die Erinnerung an die Opfer zu ehren, indem wir uns weigern, in die Falle der Angst zu tappen, die uns der Terror stellt. Es bedeutet, aus den Trümmern dieses Tages die Verpflichtung zu schöpfen, eine Gesellschaft zu gestalten, die stärker, vielfältiger und menschlicher ist – gerade, weil sie die Dunkelheit gesehen hat.

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