2022 rief der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine eine „Zeitenwende“ aus. Gemeint war vor allem eines: Die Einrichtung eines 100-Milliarden-Euro-Sondervermögens für die Bundeswehr und dessen Verankerung im Grundgesetz. Doch was sich seitdem in Deutschland und Europa vollzogen hat, ist nicht nur eine neue Militarisierung von Politik und Diskurs – zuletzt weiter befeuert durch die Forderung des US-Präsidenten nach einer Erhöhung der Nato-Verteidigungsausgaben aller Mitgliedstaaten auf 5% des Staatshaushalts –, es ist eine Zeitenwende ganz anderer Art.
Die Zeitenwende ist die der Einwilligung einer erschöpften europäischen Gesellschaft zum rasanten Backlash. Lange haben wir uns durch Begriffe wie Normalisierung eine Harmlosigkeit eingeredet und dabei nicht kommen sehen wollen: Antisemitismus, Rassismus, Frauen- und Queerfeindlichkeit, Autoritätshörigkeit, Demokratieverachtung wurden nicht nur normalisiert, sie sind mittlerweile Ausdruck von Volkes Wille.
Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik sind mit dieser Zeitenwende des gesellschaftlichen Backlashs untrennbar verbunden. Durch das Erinnern an historisches Scheitern von Menschlichkeit, an Zerstörung, an Verbrechen, Krieg und Leid, soll gesellschaftliches Lernen ermöglicht werden. Immer mit dem Ziel vor Augen, die Gegenwart so einzurichten, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt. Erinnern soll also Methode eines Einübens von Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Solidarität sein. Das ist die gesellschaftliche Funktion von Erinnern, zumindest wenn man die immer wieder beschworene Parole „Nie Wieder“ wörtlich versteht. Die Tatsache, dass die Realität sich zunehmend einem „Immer Wieder“ annähert, wirft die Frage auf, was von diesem Versprechen der letzten Jahre eigentlich noch übrig ist. Eine Frage, die für diskriminierte Gruppen in der Gesellschaft auch eine Frage des Überlebens ist.
Aus dieser Krise des Vertrauens in die Erinnerungskultur ergibt sich: Der Zeitenwende des gesellschaftlichen Backlash muss eine neue Erinnerungskultur der widerstendigen Zivilgesellschaft folgen. Eine Erinnerungskultur, die Ausdruck eines Willens zur Gestaltung wird, notfalls gegen eine zunehmend autoritärere Politik. Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Solidarität: Das sind keine Ziele gesellschaftlichen Konsens; es sind die Eckpfeiler eines neuen Widerstands. Diesen Widerstand der pluralen Demokratie organisieren wir auch mit den Mitteln der Erinnerungskultur.
Die Veranstaltung findet in englischer und deutscher Sprache statt.
14. März 2025
Einlass: 18:30 Uhr
Beginn: 19:00 Uhr
Studio Я
Hinter dem Gießhaus 2
10117 Berlin
Eine Kooperation der Coalition for Pluralistic Public Discourse (CPPD) mit dem Maxim Gorki Theater.
Beteiligte: Max Czollek, Cátia Severino, Jo Frank, Johanna Korneli und Weitere