
Die Digitalisierung prägt grundlegend die Art und Weise, wie Erinnerung bewahrt und Geschichte vermittelt wird. Digitale Archive, KI-gestützte Zeitzeug*innen-Gespräche und holografische Darstellungen schaffen neue Zugänge zu historischen Erfahrungen. Zugleich stellen sie uns vor zentrale Herausforderungen: Wie können historische Zeugnisse digital vermittelt werden, ohne der Logik von Plattformen und Algorithmen unterworfen zu werden? Welche Bedeutung haben physische Gedenkorte, wenn Erinnerung verstärkt virtuell stattfindet?
Das CPPD-Festival »Memory Matters« am 8. Oktober 2025 in Chemnitz nahm diese Fragestellungen in Kooperation mit OFFENER PROZESS – Ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex auf. In der Europäischen Kulturhauptstadt 2025 begegnen sich Erinnerung, Transformation und gesellschaftlicher Diskurs auf unmittelbare Weise.
Den Kern des Festivals bildete die Paneldiskussion „Erinnerungsarbeit in digitalen Räumen“ mit Dr. Jonas Fegert, Nhi Le und Susanne Siegert unter der Moderation von Benjamin Fischer. Die Diskussion untersuchte, wie sich Erinnerungskultur in digitalen Öffentlichkeiten wandelt und welche ethischen sowie politischen Verantwortlichkeiten damit einhergehen. Susanne Siegert, Journalistin und Influencerin, beleuchtete die Schwierigkeiten, historische Forschung für soziale Medien aufzubereiten – im Spannungsfeld zwischen Aufmerksamkeitsgenerierung einerseits und der Gefahr von Vereinfachung und Sensationalisierung andererseits. Sie unterstrich das Potenzial digitaler Plattformen und betonte zugleich, dass Institutionen in Zeiten kontinuierlicher Paradigmenwechsel flexible und lernfähige erinnerungspolitische Strategien entwickeln müssen, um jüngere Generationen zu erreichen. Jonas Fegert stellte heraus, dass die Erforschung von Informationssystemen und sozialen Netzwerken unmittelbar mit demokratischen Prozessen und Minderheitenrechten verknüpft ist, da digitale Plattformen gesellschaftliche Diskurse und Erinnerungskulturen zunehmend prägen. Er warnte davor, dass algorithmische Strukturen und synthetische Medien Inhalte emotionalisieren und manipulieren können, was öffentliche Wahrnehmung und demokratische Abläufe tiefgreifend beeinflusst. Nhi Le richtete die Aufmerksamkeit auf postmigrantische Perspektiven und die Frage, wie digitale Öffentlichkeiten marginalisierten Stimmen Gehör verschaffen können.
Das Panel schloss mit konkreten Hinweisen auf Best-Practice-Beispiele von Susanne Siegert sowie der Forderung nach stärkerer politischer Fokussierung auf eine staatlich geförderte digitale Infrastruktur. Diese sollte demokratische Kommunikationskulturen und inklusive Formen kollektiver Erinnerung in sozialen Netzwerken ermöglichen und antidemokratischen Tendenzen entgegenwirken. Besonders hinsichtlich der generationalen Kluft können transdisziplinäre Ansätze neue Wege eröffnen, Geschichte als dynamischen Erfahrungsraum zu verstehen, in dem Teilhabe zu einem reflexiven und partizipativen Prozess wird und somit Verantwortungsbewusstsein und Kontextualisierung stärkt.
Parallel dazu fand ein Vernetzungstreffen mit Akteur*innen regionaler und bundes-weiter Erinnerungsinitiativen statt. Im Mittelpunkt standen Austausch und Zusammenarbeit zu Projekten und Ressourcen, insbesondere dort, wo Erinnerungsarbeit zunehmend in digitale Räume überführt wird. Die Entwicklung fiktiver digitaler Projekte machte deutlich, wie entscheidend durchdachte Prozesse sind, um junge Zielgruppen einzubinden und zu beteiligen. Eine Führung durch die Ausstellung „Offener Prozess“ und der Workshop „re:member the future“ gewährten Einblicke in die Vermittlungsansätze des Dokumentationszentrums und zeigten, wie digitale Interventionen im Stadtraum an die durch den NSU Ermordeten erinnern – in einer Stadt, die bis heute keinen offiziellen Gedenkort etabliert hat.
Das Dynamic Memory Lab präsentierte eine komprimierte Fassung der Ausstellung »Nước Đức« im kuratorischen Bereich des OFFENER PROZESS – Ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex. Eine Kurator*innenführung mit Nina Reiprich und Dan Thy Nguyen veranschaulichte, wie sich vietnamesisch-deutsche Erinnerungsgeschichten zwischen Flucht, Vertragsarbeit, Gewalterfahrungen und Selbstermächtigung entfalten – und wie eng Fragen digitaler Erinnerung, Zugehörigkeit und gesellschaftlicher Sichtbarkeit miteinander verflochten sind.
Das Festival unterstrich, dass Erinnerungskultur im digitalen Zeitalter neue Vermittlungsformen und Verantwortungsstrukturen erfordert. Digitale Räume können historische Erfahrungen erweitern, dürfen jedoch reale Begegnungen und physische Orte nicht ersetzen. Erinnerung bleibt – auch in digitalen Kontexten – eine gesellschaftliche Aufgabe, die kontinuierliche Aufmerksamkeit, Anpassungsfähigkeit, institutionelle Verantwortung und öffentliche Förderung verlangt.