Der NSU bekundete es selbst in seiner Bekenner-DVD: man sei ein „Netzwerk von Kameraden“. Als am 4. November 2011 der Terror aufflog, machten sich die Ermittler*innen auf die Suche. Gab es wirklich so ein Netzwerk? Gab es Helfer*innen, gar weitere Mitglieder?
Es ist der 4. November 2011, morgens um 9.25 Uhr, als der Eisenacher Rentner Egon Stutzke auf seinem Weg zum Einkaufen fast von zwei Radfahrern überfahren wird. Er beobachtet, wie sie an einem Wohnmobil halten, wie sich einer der beiden an dessen Steuer setzt, der andere routiniert die Fahrräder verstaut und sie dann mit quietschenden Reifen davonfahren. „V“ steht auf dem Nummernschild, für „Vogtland“. Als der Rentner aus dem Supermarkt herauskommt, sieht er eine Polizeistreife, die eine Frau befragt, ob sie zwei Radfahrer gesehen hätte. Die Frau schüttelt den Kopf, aber Stutzke sagt: „Ich hab sie gesehen.“ Da erfährt er von einem Überfall auf eine Sparkasse. „Oh Gott“, ruft der Rentner, „auch das noch“.
Die beiden Radfahrer waren Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, zwei Neonazis aus Jena, die mit ihrer Gefährtin Beate Zschäpe untertauchten, als die Polizei am 26. Januar 1998 in ihrer Garage eine Bombenwerkstatt fand. Die drei lebten zunächst in Chemnitz und dann in Zwickau unter falscher Identität, als wären sie eine nette WG junger Leute. Das aber waren sie nicht. Sie waren die brutalste rechtsextreme Terrorgruppe, die Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gesehen hatte.
In Zwickau hört Beate Zschäpe an diesem Tag aufmerksam Radio. Sie weiß, dass ihre Männer wieder unterwegs sind, um Geld zu beschaffen. Das taten sie immer wieder, oft erbeuteten sie mehrere Zehntausend Euro. Aus dem Radio erfährt Zschäpe – so jedenfalls berichtet sie es später vor Gericht –, dass in Eisenach zwei Tote in einem Wohnmobil gefunden worden sind. Die drei Terrorist*innen hatten offenbar besprochen, was in diesem Fall zu tun wäre. Zschäpe sollte in ihrer Wohnung Feuer legen, um alle Spuren zu vernichten. Anschließend sollte sie das bis dahin klandestine Werk des NSU in seiner ganzen Abgründigkeit offenbaren und die über Jahre vorbereiteten Bekennervideos verschicken, auf denen der NSU seine Opfer verhöhnte und die Trickfilmfigur Paulchen Panther die Attentate, die darin „Streiche“ genannt wurden, zynisch kommentieren ließ. Die Täter hatten ihre Opfer aus nächster Nähe fotografiert, als sie im Sterben lagen, und zeigten Bilder davon in diesem Video.
Der NSU ermordete von 2000 bis 2007 zehn Menschen – acht Männer mit türkischen und einen Mann mit griechischen Wurzeln sowie eine Polizistin aus Thüringen:
Enver Şimşek, getötet in Nürnberg. Abdurrahim Özüdoğru, getötet in Nürnberg. Süleyman Taşköprü, getötet in Hamburg. Habil Kılıç, getötet in München. Mehmet Turgut, getötet in Rostock. İsmail Yaşar, getötet in Nürnberg. Theodoros Boulgarides, getötet in München. Mehmet Kubaşık, getötet in Dortmund. Halit Yozgat, getötet in Kassel. Und Michèle Kiesewetter, getötet in Heilbronn.
Zusätzlich zu den Morden beging der NSU 15 Raubüberfälle. Die Neonazis schlugen und terrorisierten Bankangestellte und Kund*innen, einem jungen Mann schossen sie in den Bauch, einem Polizisten in den Kopf. Und sie legten drei Bomben, bei denen in Köln und Nürnberg Dutzende Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.
Die Erkenntnis trifft das Land wie ein Schlag. Der Generalbundesanwalt übernimmt die Ermittlungen. Mehrere Verfassungsschutzchefs müssen im Laufe der folgenden Monate gehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel nennt die Verbrechen des NSU eine „Schande für unser Land“ und verspricht den Angehörigen, alles zu tun, „um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen“.
Für die Hinterbliebenen bedeuteten die Anschläge gleich zwei Tode: Erst starben ihre Väter, Brüder, Söhne. Dann starben sie den sozialen Tod. Da die Ermittlungen über Jahre hinweg vor allem den Hintergrund der Opfer ausleuchteten und nach Drogen, Spielsucht, Eheproblemen als Motiv gesucht wurde, gerieten die Toten und ihre Angehörigen in ein schiefes Licht. Die Familien wurden unter Verdacht gestellt und litten jahrelang unter dieser Stigmatisierung als vermeintlich „kriminell“ und irgendwie „selbst schuld“
Vier Männer ließ die Bundesanwaltschaft schließlich festnehmen, sie wurden später zu Haftstrafen von bis zu zehn Jahren verurteilt: der frühere NPD-Mann und Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben, der langjährige Helfer André E., der Passbesorger Holger G. und der reuige Waffenüberbringer Carsten S. Zugleich leitete die Bundesanwaltschaft gegen neun weitere Rechtsextremisten Verfahren wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung ein. Bis heute ist nicht geklärt, wer noch dem NSU zuzuordnen ist und wie viele Hintermänner und -frauen es wirklich gibt.