Am 27. Nissan (üblicherweise Ende April/Anfang Mai) begeht Israel den Jom haZikaron laScho’a weLaGwura (Gedenktag für den Holocaust und jüdisches Heldentum), im Volksmund als Jom haScho’a bekannt, seinen nationalen Holocaust Gedenktag. Ursprünglich sollte er auf den Jahrestag des Aufstandsbeginns im Warschauer Ghetto fallen, doch da dieser mit der Nacht vor dem Pessachfest (14. Nissan) zusammenfiel, wurde ein späterer Tag im Aufstand zu Israels nationalem Gedenktag. Das Wort Shoah („Katastrophe“) stammt aus dem Hebräischen und bezeichnet den Genozid an den europäischen Jüdinnen*Juden während des Nationalsozialismus, vergleichbar ist es dem Romaniwort „Porajmos“. Religiöse Jüdinnen*Juden lehnen das Wort Holocaust häufig ab, da es der christlichen Theologie entspringt. Dennoch benutzen viele Gemeinden es zur Bezeichnung aller von den Nazis begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und nicht nur für die an ihrem Kollektiv begangenen. Über diese Begrifflichkeiten ließen sich Seiten füllen. So viel sei aber noch gesagt: Der angloamerikanische Gebrauch der Terminologie unterscheidet sich stark von dem in anderen nationalen Kontexten.
Der Jom haScho’a gehört neben dem Jom haAtzma’ut und dem Jom Yerushalaim zu einer Reihe nationaler Feiertage, die vor der Gründung des Staates Israel nicht Teil des traditionellen jüdischen Kalenders waren. Üblicherweise wird der Tag mit einer öffentlichen Feier in Yad Vashem begangen, eine Sirene lässt das ganze Land stillstehen und alle Menschen zwei Minuten in Schweigen verharren. Während der sechs Millionen Jüdinnen*Juden gedacht wird, die im Holocaust ermordet worden sind, bleiben auf der Autobahn die Fahrzeuge auf der Standspur stehen, im ganzen Land ruhen die Geschäfte und es herrscht vollkommene Stille. Der Gedanke, einer nationalen Katastrophe zu gedenken, indem die Erinnerung an den heroischen Aufstand im Warschauer Ghetto hochgehalten wird, wurzelt darin, wie der junge Staat Israel sich seit seiner Gründung zum Völkermord gestellt hat. Seit ihrer Gründung und bis heute betrachtet die Nation die jüdische Selbstbestimmung als Gegensatz zum Opferdasein, als die einzige Garantie dafür, dass Jüdinnen*Juden nie wieder wehrlos in Gaskammern geschickt werden können. Der Pioniergeist des neugegründeten jüdischen Staates brachte sogar viele Überlebende dazu, sich ihres Opferseins zu schämen. Schließlich war schon manch ein Ruf an sie ergangen, den jungen jüdischen Staat in seinen frühen Kriegen mit Waffengewalt zu verteidigen. Daher war es der heldenhafte, wenngleich vergebliche Versuch, sich gegen die Nazis in Warschau zu erheben, der in die Erinnerung eingehen sollte und nicht etwa die Befreiung eines Konzentrationslagers. Der jüdische Staat sorgte dafür, die Erinnerung an den jüdischen Widerstand ebenso lebendig zu erhalten wie die an das jüdische Opfersein. Auch wenn es aus einer historischen Perspektive nur wenige jüdische Widerstandsakte gegeben hat, ist es nur allzu begreiflich, dass die Erinnerung ihnen gelten sollte. Heute wissen wir selbstverständlich, warum es nur so wenige gegeben hat: aufgrund der entsetzlichen Raffinesse und des industriellen Vorgehens der deutschen Tötungsmaschinerie. Erst nach dem in den frühen 60er Jahren öffentlich ausgestrahlten Prozess gegen Eichmann begannen viele Überlebende ihre Geschichten zu erzählen, denn das Ausmaß des Völkermords, die schiere Vernichtung war nun der ganzen Nation deutlich geworden. Seitdem hat sich in Israel der Tag, und wie er begangen wird, einschneidend verändert.
Jüdische Gemeinden auf der ganzen Welt pflegen den Tag als eine eher intime, auf die Gemeinde beschränkte Form der Erinnerung zu begehen. Daneben wird noch ein in den Ländern entsprechend gefeierter Gedenktag begangen – oft ist dies der 27. Januar. In diesem Sinne ist ein israelischer Nationalfeiertag in den jüdischen Kalender von heute eingegangen. Politiker*innen und Vertreter*innen des Staates werden nur selten zu den Feierlichkeiten am Jom haScho’a eingeladen, doch religiöse Zeremonien finden an diesem Tag oft statt. Es werden besondere Gebete gesprochen, etwa eine eigene Version des El Male Rachamim (Der Herr ist voller Barmherzigkeit). Gemeinden fordern die noch unter uns weilenden Überlebenden auf, das Wort zu ergreifen, mehrere Generationen der Familien begegnen sich im Gespräch und hängen persönlichen Formen der Erinnerung an.
Die jüdische Gemeinde in Berlin beginnt beispielsweise damit, die Namen der 55.696 ermordeten Berliner Jüdinnen*Juden vor ihrem Gemeindezentrum in der Fasanenstraße vorzulesen. Normalerweise koordiniert der lokale Jugendverband das Ereignis und allein diese Zeremonie nimmt mehrere Tage des ununterbrochenen Vorlesens in Anspruch. Eine Delegation von etwa 17.000 Jugendlichen begibt sich jedes Jahr auf den „Marsch der Lebenden“ – um einen Kontrapunkt zu den Todesmärschen zu setzen. Oft singen und tanzen sie dabei gemeinsam mit ihren Verwandten, die überlebt haben. Nachdem sie eine Woche in Polen verbracht, viele der Lager besucht und manches über jüdisches Leben im Vorkriegspolen erfahren haben, reisen viele von ihnen weiter nach Israel, um dort den Unabhängigkeitstag am 5. Ijar zu feiern.
Als ich in Berlin als Jugendleiter tätig war, pflegten wir oft die Lücken im Zeitplan für das Vorlesen der Namen auszufüllen, sodass wir oft ganze Nächte hindurch lasen. Damals sagte jemand zu mir, wir müssten, wollten wir nur für jeden der sechs Millionen während des Holocausts ermordeten Juden eine Schweigeminute einlegen, ungefähr elfeinhalb Jahre schweigen.