Anlässlich des ersten Jahrestages des Terrorangriffs der Hamas auf Israel haben wir mit Dinah Riese, Co-Leiterin des Inlandsressorts der taz, und Gil Shohat, Leiter des Israelbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung, gesprochen. Dinah und Gil reflektieren über ihre persönlichen Erfahrungen vom 7. Oktober 2023 und die Zeit danach. Es geht um Themen wie persönliche Trauer, Wut, Empathie und gesellschaftliche Traumata, aber auch um die Frage, wie eine Zukunft für Israelis und Palästinenser*innen gestaltet werden kann und welche Rolle Erinnern an die Gegenwart dabei spielen kann.
CPPD
Als Ausgangspunkt möchten wir euch fragen, wie ihr jeweils den 7. Oktober 2023 erlebt habt.
Gil
Ich war am 7. Oktober zu Hause in Tel Aviv und bin erst zwei Tage vorher von einer Reise mit meiner Familie in den Norden Israels zurückgekommen. Eine Verwandte von mir lebt dort in einem Kibbuz kurz vor der Grenze mit Libanon, das mittlerweile seit gut einem Jahr evakuiert ist. Wir haben den Tag, wie so viele Menschen in Israel, zunächst mit dem Erschrecken darüber begonnen, dass es früh morgens Raketenalarm gab. Ich schildere es immer so, dass es eine Situation war, in der die Gegenwart, kaum eingeordnet, immer wieder von den Nachrichten überholt wurde. Einerseits gab es die Berichterstattung im Radio, über die sich entwickelnden Ereignisse. Dort hieß es zunächst, es gebe Raketenangriffe aus dem Gaza-Streifen. Recht schnell kursierten dann in den sozialen Medien auch Bilder von Hamas-Kämpfern, die innerhalb Israels Ortschaften überfallen und dort Geiseln genommen haben. Dies überholte dann die laufende Berichterstattung im Radio. Wir sind den ganzen Tag nicht aus dem Haus gegangen, es gab mehrmals Alarm in Tel Aviv. Es war eine gespenstische Stimmung in der Stadt. Währenddessen gab es Kämpfe, die im Süden Israels vor sich gingen. Ich habe zwei kleine Kinder. Es war auch nicht einfach, ihnen zu erklären, was da eigentlich gerade passiert. Für uns war schnell klar, dass etwas passierte, was so noch nicht passiert war und dass wir deswegen überlegen müssen, wie wir als Familie weiter verfahren. Am 8. Oktober fiel bei uns die Entscheidung, dass wir Israel zunächst verlassen möchten. Es lief dann wie im Zeitraffer: Packen, Fertigmachen, die Kinder im Schutzraum, den wir zum Glück in unserer Wohnung haben, zu Bett bringen, ihnen erklären müssen, dass wir bald aufbrechen würden – und warum. Dabei hatten wir es noch gut im Vergleich zu vielen anderen, die keinen eigenen Schutzraum haben und immer zum nächsten laufen mussten. Das alles ist noch sehr gegenwärtig. Es ist schwer zu glauben, dass es bald schon ein Jahr her ist.
Dinah
Ich war am 7. Oktober in Berlin. Ich war auf ein sehr emotionales Wochenende eingestellt, aber aus ganz anderen Gründen: Der 7. Oktober war ein Samstag und am Freitag haben wir Stolpersteine für meine Familie verlegt. Dementsprechend war Familie zu Besuch, auch Verwandte aus Israel. Ich bin an diesem Morgen aufgewacht und ich habe mitbekommen, dass etwas passiert. Ich habe eine Weile gebraucht, um zu verstehen, dass etwas anderes geschieht als sonst – was an sich schon bizarr ist: zu denken, dass das jetzt etwas anderes ist als der „normale“ Raketenbeschuss. Der Vormittag verging damit, dass wir allesamt die ganze Zeit an unseren Handys waren, mit Bekannten, Familie und Freund*innen geschrieben und versucht haben, herauszufinden, ob sie okay sind. Währenddessen wussten wir noch gar nicht, was genau passiert war. Aber es war klar, dass es furchtbar sein musste. Und so verging dieser Tag. Meine Familie war am Hermannplatz im Hotel untergebracht. Also genau dort, wo am Abend des 7. Oktober Menschen auf der Straße Süßigkeiten verteilten und den Angriff auf Israel feierten. Die Hupkonzerte fanden direkt vor ihrem Fenster statt.
Wie Gil habe ich auch zwei kleine Kinder. Einerseits waren wir in Schockstarre, andererseits mussten wir uns um die Kinder kümmern, die ja auch nicht wussten, was los ist. Mit der israelischen Familie im Haus hatte ich sowieso das Gefühl, ich müsste ihnen in dieser Situation Freiräume schaffen, weil sie noch viel direkter betroffen sind als ich. Zuerst habe ich mich einfach gekümmert. Darum, dass etwas zu essen auf dem Tisch steht und so weiter. Das hat mehrere Tage angehalten, bis ich dann irgendwann bei der Arbeit einen ziemlichen Nervenzusammenbruch hatte – das war der erste Moment, in dem niemand um mich war, der mich noch dringender brauchte.
CPPD
Vielleicht könntet ihr auch die Gedanken der nächsten Tage skizzieren. In Deutschland setzte sehr schnell eine Polarisierung ein, die sich bis heute auf dramatische Art verschärft hat. Innerhalb sozialer Netzwerke, aber auch on the ground – teils auch von Menschen und Gruppen, die in den vergangenen Jahren aktiv im Kontext unserer Arbeit gewesen waren.
Dinah
In den ersten ein, zwei Tagen nach dem 7. Oktober habe ich mit Fassungslosigkeit gesehen, wie manche Menschen dieses Ereignis nahtlos in ihr Narrativ einfügen. Der Begriff „Genozid“ tauchte schon am 8. Oktober auf, bevor der Krieg in Gaza überhaupt begonnen hatte. Dieses Narrativ, das Terror als Widerstand verherrlicht, ist international auf Social Media und auch bei bestimmten Organisationen und Akteur*innen in Deutschland sofort präsent gewesen. Wenn ich fast ein Jahr später darauf zurückblicke, finde ich mich so naiv. Dass ich damals geglaubt habe, ein Terrorangriff, ein Massaker, die Gräueltaten des 7. Oktober müssten alle Menschen einen Moment innehalten lassen.
In meinen Feeds in den sozialen Medien sind viele queerfeministische Accounts, viele antirassistische Accounts. Accounts, deren Inhalte mich sowohl privat als auch bei meiner Arbeit beschäftigen. Es ist nicht neu, dass bestimmte Gruppen zu Demos, zum Beispiel am Jahrestag des Hanau-Anschlags, mit Slogans wie von Hanau bis nach Gaza, Yallah Intifada demonstrieren. Trotzdem dachte ich, dass auch diese Menschen etwas wie den 7. Oktober verurteilen würden und nicht als Widerstand oder als Lektion in Sachen Befreiung feiern. Ich habe mich geirrt. Ich habe mich darin geirrt, dass es in queerfeministischen Kreisen als unumstößlich gilt, sexualisierte Gewalt zu verurteilen und den Betroffenen, den Frauen, zu glauben. Dass Menschen, die sich in diesen Kreisen bewegen, die massive und systematische sexualisierte Gewalt am 7. Oktober in den Kibbutzim, auf dem Nova Festival und in der Geiselhaft als „zionistische Propaganda“ gelabelt haben – das hat mir buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen.
Gil
Wir sind am 9. Oktober nach Berlin ausgereist. Das war für mich sehr emotional. Ausreisen zu müssen, weil ich das damals und auch nachträglich für die richtige Entscheidung halte, vor allem aufgrund meiner familiären Situation. Dennoch fühlte ich mich in Berlin wie in einer surrealen Welt: Mit meinem Kopf und meinem Herzen befand ich mich in Tel Aviv und musste mich erstmal in der neuen Berliner Realität zurechtfinden. Das Wichtigste war mir, auf die Kolleg*innen zu achten, dass es ihnen gut geht und ansprechbar zu bleiben. Dazu sei gesagt, dass unser Team in Tel Aviv ein jüdisch-palästinensisches Team ist. Das heißt, wir haben Mitarbeiter*innen, die am 7. Oktober indirekt betroffen waren, die Freund*innen verloren haben oder Menschen kannten, die Freund*innen verloren haben. Meine palästinensischen Kolleg*innen hingegen, die teilweise auch Familien in Gaza haben, waren in Sorge um ihre dortige Verwandtschaft. Und dafür war es in diesen Tagen sehr wichtig, die unterschiedlichen Bedürfnisse als Leitung abzufragen, zuzuhören und sie zu berücksichtigen. Gleichzeitig gab es eine Dissonanz, die darin bestand, im Kopf und mit dem Herzen in Israel zu sein und geografisch in Berlin. Diese ersten Tage waren also von einer plötzlichen Entwurzelung geprägt: für die Kinder aus ihren Schul- und Kindergartenkontexten und für mich aus dem Arbeitskontext.
Ich habe neun Tage nach dem siebten Oktober einen Beitrag verfasst mit dem Überschrift Humanität bewahren. Darin beschreibe ich einerseits die Erfahrungen, die ich jetzt gerade schildere, und andererseits, was mir zu dem damaligen Zeitpunkt Hoffnung gegeben hat. Und das war die Fähigkeit der Akteur*innen, mit denen wir vor Ort zusammenarbeiten – sowohl jüdische Israelis als auch palästinensische Staatsbürger*innen in Israel – die Fähigkeit, die Trauer und den Schmerz auf allen Seiten zu diesem Zeitpunkt zu sehen und die gegenseitige Empathie aufzubringen, die in solchen Zeiten notwendig ist.
Ich stellte mir auch Fragen, wie das alles überhaupt passieren konnte und was es bedeuten könnte, und auch die Frage, was kommt danach? Die Luftangriffe auf den Gazastreifen waren schon sehr intensiv zu diesem Zeitpunkt und gleichzeitig war der unfassbare Schmerz des 7. Oktober noch ganz frisch. Schreiben kann auch Stimmen hervorheben, die keinen Unterschied zwischen dem Leiden der einen oder der anderen Gruppe machen. In meinem Artikel zitiere ich zwei von ihnen und verweise auf die radikale, ungeteilte Humanität. Vom „Strudel der gegenseitigen Dehumanisierung“ habe ich geschrieben. Aber auch, dass es Hoffnung gibt. Wenn ich den Artikel von damals jetzt noch einmal lese, stehe ich immer noch hinter jedem Wort. Es war der Versuch, das Geschehen selbst irgendwie in Worte zu fassen, zu lokalisieren. Auch als Methode, die Hoffnung zu bewahren und nach vorne zu schauen. Es waren mit die intensivsten Tage, an die ich mich erinnern kann. Das waren verrückte Tage, verrückte Wochen, die immer noch nicht vorbei sind.
Dinah
Ich finde es interessant, was du sagst, Gil. Im letzten Jahr habe ich viele berührende Texte von unterschiedlichen Autor*innen gelesen. Und obwohl Schreiben mein Hauptbroterwerb ist, habe ich nicht einen einzigen Text zustande gebracht. Mir haben einfach die Worte gefehlt. Ich schreibe jetzt, zum ersten Jahrestag, den ersten Text über den 7. Oktober. Früher konnte ich es nicht. In diesen ersten Tagen war ich schlicht nicht arbeitsfähig. Ich musste mir erstmal ein paar Tage frei nehmen. Es war für mich völlig unmöglich, mich professionell mit dem zu beschäftigen, was gerade passiert. Andere Kolleg*innen haben es genau anders gemacht und haben sich intensiv ins Arbeiten rund um den 7. Oktober und seine Folgen gestürzt. Menschen haben unterschiedliche Bewältigungsstrategien. Meine Entscheidung damals war: Ich habe eine Familie zu Hause, um die ich mich kümmern muss, dafür brauche ich meine ganze Energie.
CPPD
Wir würden gern Eure Gedanken zu einem Aspekt der Trauer- und Verarbeitungsarbeit hören, der in den ersten Tagen kaum Beachtung fand und weiterhin weitgehend vernachlässigt wird: der Umgang mit den Geiseln, die am 7. Oktober genommen wurden. Dinah, du hast bereits die schreckliche Gewalt gegen Frauen in diesem Zusammenhang erwähnt. Es scheint, als seien die Geiselnahmen in Deutschland sehr schnell in den Hintergrund des Nachdenkens und des Diskurses gerückt. Im Rahmen der Erinnerung an den 7. Oktober könnte das anders sein.
Gil
Ich erinnere mich an die drei Monate, in denen wir in Deutschland waren. Da hatte ich den Eindruck, dass die Geiselfrage durchaus präsent war. In Berlin gab es Orte, an denen Poster der Geiseln aufgehängt wurden. Für mich war es ständig präsent, weil ich mich ja gezwungenermaßen beruflich mit israelischen Medien beschäftigt habe und mit unseren mitarbeitenden Partnern im Kontakt war. Ich kann gar nicht mehr richtig sagen, ob die Geiselnahme für mich weniger oder mehr präsent war, als sie es in Israel gewesen wäre. Mit dem Kopf war ich diese drei Monate sowieso vorrangig hier in Tel Aviv. Die Orte sind miteinander verschwommen. In Israel ist die Geiselfrage omnipräsent. Es gibt fast keine Werbepause im öffentlich-rechtlichen Radio, in der keine Stimme von Angehörigen der Geiseln zu hören ist. Und es gibt immer noch über 100 Geiseln, von denen wir nicht wissen, ob sie überhaupt noch am Leben sind.
Gleichzeitig erfahren die Geiseln auf politischer Ebene wenig Rücksicht. Das sehen wir schon daran, dass sie noch nicht frei sind. Dementsprechend gibt es eine Dissonanz. Ich habe den Eindruck, dass in der hiesigen Debatte einerseits in Dauerschleife die Erinnerung an die Tatsache, dass es Geiseln gibt, wachgehalten wird, aber sie sich andererseits nicht unbedingt in einen aktiven Einsatz zu ihrer Befreiung übersetzt. Diese Dissonanz zwischen der dauernden Präsenz der Geiseln, im Straßenbild oder im Fernsehen, im Rundfunk, in Gesprächen, auf Demonstrationen auf der einen Seite und dem gleichzeitig offensichtlich Nichthandeln der Regierung im Sinne ihrer Befreiung auf der anderen Seite, lässt mich fragen, inwieweit diese Dauerpräsenz überhaupt dazu führt, dass sich Menschen für die Befreiung der Geiseln einsetzen. Ich habe den Eindruck, dass vieles von der Rhetorik, die sich um die israelischen Geiseln dreht, zu einer Passivität in der Gesellschaft führt. Das hat sich in den letzten Monaten allerdings verändert. Die Proteste sind wieder stark angewachsen. Aber diese Dissonanz, wie sie zustande kommt und was dahinter liegt, treibt mich um.
CPPD
Die anfängliche Sichtbarkeit von Plakaten, die auf die Geiselnahmen aufmerksam machten, wurde schnell durch deren Entfernung oder Beschmieren zerstört. Auch das führte dazu, dass die Forderung nach Geiselbefreiung im deutschen Diskurs rasch verdrängt wurde, was die menschliche Dimension des 7. Oktober und des Krieges in den Hintergrund rückte.
Dinah
Gil, du hast ja am Ende noch gesagt, dass wir in Israel die größten Proteste auf den Straßen sehen, die es im Land jemals gab. Es sind gerade die Familien der Geiseln und ihre Unterstützer*innenkreise seit einem Jahr unglaublich aktiv im Land wie auch international. Dass sich dieses zivilgesellschaftliche Handeln und Erinnern nicht in Politik umsetzt in diesem Land mit dieser Regierung, ist das große Drama, aber leider wenig überraschend.
Jedes Mal, wenn ich ein Video etwa von den Eltern von Hersh sehe, denke ich: Was sind das für Menschen? Was für unglaubliche Menschen, diese Kraft und auch diese Größe. Sie schaffen es auf eine beeindruckende Art und Weise, eine humanistische Botschaft zu senden, die offensichtlich vielen Menschen fehlt. Leid als Leid zu benennen und als etwas, das nicht nur auf einer Seite stattfinden kann, falls man überhaupt von „Seiten“ sprechen möchte, sondern zu erkennen, dass in dieser Welt genug Leid für alle da ist.
Das bringt mich zu der deutschen Debatte. Ich lese gerade „Gleichzeit“ von Sasha Marianna Salzmann und Ofer Waldmann. Darin haben sie einen Begriff für das geprägt, was wir in diesem Gespräch hier gerade immer so lang ausführen: Am und Seit. Um zusammenzufassen, dass wir ja weder ausschließlich über den 7. Oktober sprechen noch ausschließlich über den darauffolgenden Krieg in Gaza.
Was mich beschäftigt, ist das Ausmaß nicht nur fehlender Solidarität oder fehlender Empathie, sondern aktiver Entsolidarisierung in verschiedene Richtungen. Nachdem am 1. September sechs Geiseln tot geborgen wurden, hat jemand hier in Deutschland ihre Namen in einem Graffity an die Wand gesprüht um an sie zu erinnern. Jemand anderes hat dann die Namen durchgestrichen und „Free Palestine“ darübergeschrieben. Das ist ja nicht nur eine politische Forderung nach dem Ende der Besatzung, sondern ein Erniedrigen der Opfer. Genauso gibt es Menschen, die behaupten, dass jedes Kind in Gaza bereits Terrorist sei und dass es keine Zivilbevölkerung in Gaza gebe. Das bedeutet ja nichts anderes, als dass diese Menschen die Bomben, das Leid, das Sterben, den Hunger und die Krankheiten allesamt verdient hätten. Das ist genauso unerträglich. Sich zwischen diesen Polen zu befinden und zu denken, wo ist eigentlich die Menschlichkeit hin? Ich könnte Tausend solcher Beispiele nennen: Im November, als es die erste Waffenruhe gab und die ersten Geiseln gegen palästinensische Gefangene ausgetauscht wurden, war das nicht nur für mich ein Moment unfassbarer Erleichterung. Mir sind aber in den sozialen Medien Menschen begegnet, die mit einer derartigen Verachtung auf diese Erleichterung reagiert haben und sich darüber aufgeregt haben, dass alle Bilder von den freigelassenen israelischen Geiseln zeigen. „Warum feiert denn keiner die freigelassenen Palästinenser*innen?“, lautete die Frage in einem Post. Diese Person hat aber selbst auch keine Bilder der freigelassenen palästinensischen Gefangenen geteilt und sie gefeiert, sondern sich lediglich über die Freude der anderen empört. Freude darüber, dass Frauen und Kinder aus der Geiselhaft einer Terrororganisation entlassen worden sind. Wenn wir über die deutsche Debatte sprechen, dann geht es viel um Virtue Signaling. Darum, sich selbst moralisch zu überhöhen.
Die einen fluten die sozialen Medien mit Bildern, wie sie ihr Baby und ihren Dackel in eine Kufiya wickeln. Und die anderen damit, wie sie am Brandenburger Tor in eine Israelfahne gehüllt stehen und Ausbürgerungen fordern. Niemand davon trägt auch nur im Mindesten dazu bei, dass die Situation der Menschen vor Ort sich verbessert. Darum geht es auch nicht. Im Kern geht es darum, der Welt zu zeigen, dass man auf der „richtigen Seite“ steht – was auch immer die richtige Seite sein soll.
Das ist auch der Bogen zur Erinnerungskultur: Ganz viele sehen in ihrem Handeln erinnerungspolitsche Bezüge. Dabei fallen Sprüche wie nie wieder ist jetzt, nie wieder for everyone oder aber auch was werdet ihr mal euren Kindern erzählen, auf welcher Seite ihr gestanden habt. Das scheint viel wichtiger als sich zu überlegen, was man akut gerade tun könnte, um Leben zu retten. Nicht, dass wir hier von Deutschland aus diesen Krieg beenden könnten. Aber statt sich zu fragen, wie man produktiv, konstruktiv etwas zu diesem ganzen Horror beitragen könnte, geht es vielen Menschen darum, wie sie selbst in Zukunft dastehen werden.
CPPD
Gil, wie hast du persönlich und beruflich die zunehmende Entsolidarisierung nach dem 7. Oktober erlebt, insbesondere in Bezug auf institutionelle Verbindungen? Im Rahmen unserer Arbeit bei Dialogperspektiven und der CPPD mussten wir feststellen, dass Dialog zunehmend unmöglich wurde – bis hin zum Abbruch von Kooperationen und dem Rückzug von Partner*innen. Trotz unserer Versuche, bilaterale Veranstaltungen zu fördern und beispielsweise den Dialog zwischen jüdischen und muslimischen Communities wieder aufzunehmen, stießen wir auf Desinteresse oder Absagen. Hast du diese Dynamik in Deiner Arbeit bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, erlebt?
Gil
Wir arbeiten innerhalb Israels mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Akteur*innen aus verschiedensten Kontexten zusammen. Das sind feministische Gruppierungen, Gewerkschaftsinitiativen oder Gewerkschaften, jüdisch-palästinensische Initiativen, Initiativen aus verschiedensten Minderheiten der israelischen Gesellschaft, Geflüchtete sowie Projekte innerhalb der beduinischen Gesellschaft Israels.
Mit unseren Projekten, die wir fördern und durchführen, sind wir sehr breit aufgestellt. Immer wenn ich das mit den Entwicklungen in Deutschland abgleiche, bin ich in sehr froh, hier in Israel zu sein. Das mag sich komisch anhören, aber es war mein ausdrücklicher Wunsch, so bald wie möglich mit meiner Familie zurückzukehren, weil ich hier das Gefühl hatte, dass diese Entsolidarisierung nicht passiert, und wenn doch, dann sehr selten. Die Organisationen, mit denen wir arbeiten, sind alle durch enorme Herausforderungen gegangen. Der 7. Oktober, der Krieg in Gaza, der Tod vieler Palästinenser*innen führt in jüdisch-palästinensischen Initiativen innerhalb Israels und darüber hinaus natürlich auch zu Krisen. Zahlreiche Organisationen konnten ihre Arbeit eine Zeit lang nicht fortführen, weil sie sich erstmal selbst sammeln mussten. Gleichzeitig ist für mich politisch schnell klar geworden, dass es hier ein Fundament an solidarischem Zusammenhalt zwischen Jüdinnen*Juden und Palästinenser*innen innerhalb Israels gibt. Und das ist nicht so leicht ins Wanken zu bringen. Wir haben viele Beispiele, in denen wir als Rosa-Luxemburg-Stiftung mit dabei sind, jüdisch-palästinensische Projekte zu fördern. Ein Beispiel ist die sogenannte Friedenspartnerschaft, Peace Partnership, שותפות שלום. Diese Initiative besteht aus über 40 gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen innerhalb Israels, die sich aus verschiedensten Blickwinkeln der israelischen Gesellschaft zusammengetan haben. Von Geflüchtetenorganisationen bis misrachischen Aktivist*innen, über beduinische Organisationen, bis hin zu Chadasch, der linken politischen Partei. Und alle haben gesagt: Wir müssen zusammenstehen, um die Situation zu beenden und uns für einen Waffenstillstand und für einen Geiseldeal einzusetzen. Als Stiftung sind wir auch dabei und fördern und unterstützen diese Initiativen, weil dies die einzige Möglichkeit ist, nach vorne zu blicken. Nur die Solidarität von jüdischen Israelis mit palästinensischen Israelis, aber auch umgekehrt, kann dazu führen, dass es hier eine Zukunft gibt. Und deswegen ist, wenn ich all das höre, was ihr beschreibt, auf eine gewisse Weise hier zur Zeit der richtige Ort für mich. Weil sich diese Fragen hier gar nicht vordergründig stellen, sondern schon lange Teil des politischen und aktivistischen Alltags sind. Daher kann ich diese Erfahrungen, die ihr beschreibt, für meinen Kontext in Israel nicht teilen. Ich bin froh darum und ich kann sagen, dass ich aus dieser Arbeit vor Ort viel Kraft schöpfe – und wir als Institution schöpfen viel Hoffnung. Denn solange es diese gemeinsamen solidarischen Kämpfe gibt, solange gibt es die Möglichkeit, dass die Dinge sich wieder zum Besseren wenden. In dieser sehr unsicheren Realität gibt es etwas an der solidarischen Arbeit, an dem Zusammenhalt, sei es bei uns im Büroteam oder mit den Akteur*innen, mit denen wir zusammenarbeiten, was Kraft gibt.
Dinah
Es ist viel verlangt, für alle gleich viel Empathie zu haben. Und das muss vielleicht auch gar nicht sein. Aber schon das pragmatische Anerkennen der Tatsache, dass das eine nicht ohne das andere geht und dass das eine nicht ohne das andere besser wird, ist enorm wichtig. Und das ist auch die Kernbotschaft von Bewegungen wie Standing Together. Zu sagen, dass es weder Freiheit und Gleichberechtigung für Palästinenser*innen ohne Sicherheit für Israel geben wird, noch Israel Sicherheit ohne die Befreiung und Gleichberechtigung von Palästinenser*innen haben wird. Und wie sehr diese Arbeit nicht nur nicht gesehen, sondern von manchen Menschen sogar verabscheut wird, sieht man zum Beispiel an dem Boykott-Aufruf von BDS gegen Standing Together. Und das, obwohl BDS ja behauptet, für die Rechte von Palästinenser*innen einzutreten.
In Israel gehen Menschen für einen Geiseldeal und für einen Waffenstillstand auf die Straße. Und sei es nur, weil sie wissen, dass sie den Geiseldeal nur durch den Waffenstillstand bekommen. Menschen, die hier für ein Ende des Krieges und für die Rechte von Palästinenser*innen auf die Straße gehen, sehe ich dagegen kaum einen Geiseldeal fordern. Offensichtlich ist es ein No-Go für manche Menschen, die Geiseln überhaupt zu nennen. Überhaupt anzuerkennen, dass es sie gibt und dass es eine Katastrophe ist, dass sie sich seit elf Monaten in Geiselhaft einer Terrororganisation befinden.
Dieses Aushalten von Gleichzeitigkeiten, von dem ich gesprochen habe, gibt es in Deutschland wenig. Ich frage mich wirklich, warum wir dazu nicht in der Lage sind. Es gibt zum Beispiel die Palestinians and Jews for Peace in Köln, die seit Monaten aktiv sind und Demos machen. Doch das dringt im Diskurs nicht durch. Das ist auch ein Problem.
CPPD
Der Kontrast zwischen dem Dialogwillen vor Ort und der tiefen Spaltung des Diskurses in Deutschland ist auffällig. Statt die Zivilgesellschaft zu stärken, führt der Krieg in Gaza und das Gedenken an den 7. Oktober hierzulande zum Zerbrechen zivilgesellschaftlicher Verbindungen, was erhebliche Folgeschäden verursacht. Ein Beispiel dafür ist das fehlende zivilgesellschaftliche Engagement bei den Landtagswahlen, aufgrund fehlender Kooperationen und gegenseitiger Diffamierungen. Gil, uns interessiert deine Einschätzung als Vertreter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Israel: Welche Fragen werden dir in diesem politischen Kontext gestellt? Wie bewertest du die Auswirkungen des Krieges auf die deutsche Zivilgesellschaft?
Gil
Als Vertreter der Rosa-Luxemburg-Stiftung werde ich viel danach gefragt, wie die Haltung der uns nahestehenden Partei Die Linke ist, die, wie die gesamtgesellschaftliche Linke in Deutschland, unterschiedliche Zugänge zu der Situation in Israel und Palästina hat. Ich versuche die Situation dann zu erklären. Ich bin immer darauf bedacht, Akteur*innen aus der Partei, aus dem Bundestag, mit unseren Partner*innen hier vor Ort zusammenzubringen. Die Frage nach der Haltung Deutschlands wird weniger gestellt. Gleichzeitig wird in Gesprächen mit unseren Partner*innen immer wieder gefragt – und zwar unabhängig, ob es jüdische, palästinensische oder andere Akteur*innen sind, die sich links verorten und die einen Stopp des Krieges fordern – warum Deutschland sich politisch so lange hinter Israel gestellt hat. Die Fragen sind oft interessiert und auf die Entwicklung in Deutschland bezogen. Ich erzähle aber auch viel von den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, den Protesten, dem anstrengenden Antisemitismus und von den gleichzeitigen Repressionen gegen pro-palästinensische Proteste, die ganz unabhängig davon stattfinden, ob Gesetze überschritten wurden oder nicht. Gleichzeitig muss ich sagen, dass die Lage hier so akut ist, dass die Zeit für solche Fragen limitiert ist. Viele Partner*innen, mit denen wir arbeiten, leiden unter zunehmender Repression. Das ist polizeiliche, staatliche Repression, aber das sind natürlich auch verbale Angriffe.
Wir versuchen, die Akteur*innen mit den uns nahestehenden Akteur*innen in Deutschland, aus Parteien und dem Stiftungsumfeld. Gleichzeitig versuche ich darzustellen, wie die Entwicklungen hier sind. Denn wie ich schon sagte, die Not ist groß, genauso aber auch die Notwendigkeit internationaler Solidarität oder von Verbindungen zu progressiven Kräften in Europa und anderswo. Ich wiederhole, dass diese Kräfte, die hier in Israel für ein Ende des Krieges und für jüdisch-palästinensische Solidarität und Zusammenhalt auf die Straße gehen, auch die Solidarität der Linken in Europa und anderswo verdienen. Und wie wir schon von dir, Dinah, gehört haben, ist das leider nicht immer selbstverständlich.
CPPD
Wir haben mit Bezug auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine festgestellt, dass es auch in einer fortlaufenden Krise eine Chance im erinnerungspolitischen Raum gibt, nämlich den, zum bewussten Handeln zu bewegen. Dem Heraustreten aus der Reflexion und vor allem dem Proklamieren von Positionen: Es gibt eine Möglichkeit, Erinnerungen dadurch zu leben, dass man solidarisch und konkret handelt. Mich würde aus euren beiden Perspektiven interessieren, wie ihr so ein Handeln gestaltet sehen wollen würdet.
Dinah
Was ich sinnvoll, wichtig und überfällig finde, ist, dass die Menschen, die nicht emotional oder biografisch betroffen sind, sich rausnehmen, ein paar Schritte nach hinten treten und reflektieren. Dass sie schauen und überlegen: Wie kommen wir da raus? Ich habe sehr viel mehr Verständnis für Menschen, die mit in diesem Krieg und in diesem Alptraum hängen, seien sie Israelis, jüdisch, palästinensisch, muslimisch. Verständnis dafür, dass diese Menschen in ihrem Schmerz, in ihrer Wut und Trauer möglicherweise wenig Ressourcen haben, reflektiert Empathie in alle Richtungen zu verteilen. Auf der anderen Seite gibt es sehr viele Menschen, die das Privileg haben, dass es bei Am und Seit dem 7. Oktober nicht um sie geht.
Hier passiert viel und zwar viel Schlechtes. Weil Gil es angesprochen hat: Die Antwort des Staates auf diese zum Teil unerträglichen, zum Teil offensiv antisemitischen Aktionen, Demonstrationen, Dinge, die auf Uni-Besetzungen passieren, ist eine rein autoritäre. Man befasst sich nicht mit den Ursachen der antisemitischen Vorkommnisse und wie man mit ihnen umgehen und ihnen begegnen kann, wie man Prävention leisten kann. Es wird verboten, verboten, verboten. Beim „Palästina-Kongress“ im April wurden Einreiseverbote verhängt, die später vor Gericht wieder kassiert wurden. Dieser Kongress war absolut unerträglich, aber man hilft der Sache auch nicht, wenn man unrechtmäßige Einreiseverbote verhängt. Es gibt einerseits tatsächlich eine Kriminalisierung von Protest und der Artikulation palästinensischen Leids. Auf der anderen Seite gibt es eine Romantisierung der Repression: Leute beharren darauf, dass Uni-Besetzungen, bei denen Hamas-Symbole an die Wand gemalt werden, friedlich sind, nur weil niemand ins Krankenhaus geprügelt wurde. Als ob die Abwesenheit physischer Gewalt bedeutet, dass etwas friedlich ist. Gleichzeitig ist diese überbordende Repression brandgefährlich, wenn wir auf den Zustand von Demokratie und Rechtsstaat gucken. Was in dieser Situation als Ausnahme etabliert wird, kann beim nächsten Mal in ganz anderen Zusammenhängen wieder auftauchen. Für Minderheiten, egal ob sie rassifiziert, muslimisch oder jüdisch sind, ist ein autoritär agierender Staat immer eine Gefahr. Auch da fehlt die Fähigkeit, Gleichzeitigkeiten zu denken. Zu sagen: Dieser Protest ist antisemitisch und nicht haltbar. Und gleichzeitig zu sagen, dieser Polizeieinsatz, bei dem Anwälte verhaftet werden, Journalist*innen verprügelt werden, ist genauso unhaltbar.
CPPD
Im Kontext der Erinnerungskultur und der aktuellen politischen Entwicklungen stellt sich eine wichtige Frage: Wie erzählen wir unsere Gegenwart, insbesondere angesichts der extremen Polarisierung in Politik und Gesellschaft? Vor dem Hintergrund der Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen scheint der Trend in Richtung Autoritarismus zu gehen. Dabei spielt Erinnerung auch eine zentrale Rolle. Gerade das Erzählen unserer Gegenwart in ihrer Gleichzeitigkeit kann zu neuen Denkweisen führen und auch Perspektiven des Handelns für diejenigen aufzeigen, die unsicher sind, wie sie gerade überhaupt handeln können. Wie denkst Du, Gil, dass wir gemeinsam vorankommen können?
Gil
In Bezug auf Gedenken und Erinnerung und den 7. Oktober bin ich ambivalent. Wir haben in Israel die Situation, dass es regierungsseitige Versuche gibt, sich der Erinnerung an den 7. Oktober zu bemächtigen, konkret anhand der Frage, ob der Staat eine Gedenkfeier zum 7. Oktober ausrichtet. Die Regierung hat sich dafür entschieden. Das ist wiederum auf wütenden Protest von Angehörigenfamilien der Opfer sowie der Geiseln gestoßen. Sie sagen zu Recht: dieses Ereignis ist nicht abgeschlossen. Nicht, solange unsere Liebsten nicht nach Hause gekommen sind. Solange nicht klar ist, was mit ihnen passiert. Andererseits gibt es meines Erachtens legitime Kritik daran, dass die israelische Regierung die Schrecken des 7. Oktobers nutze, um den seitdem in Gaza tobenden Krieg in den Kampf gegen Nazismus oder Faschismus einzureihen. Und das ist leider auch Teil der Rhetorik hier: Hamas mit Nazis gleichzusetzen. Dadurch wird gesagt, wir müssten diese Nazis heute besiegen. So werden erinnerungspolitische Versatzstücke genommen und in eine Kontinuität gesetzt, die ein Handeln ermöglicht, das zur massenhaften Tötung von Palästinenser*innen führt. Gleichzeitig würde ich nicht sagen, dass man an dieses Datum in Zukunft nicht angemessen erinnern können wird. Ich glaube, dass ein angemessenes Erinnern ein solidarisches Erinnern ist. Dass, einerseits die Erinnerung an die Opfer dieses Tages im Vordergrund steht, und andererseits nicht ausgeklammert wird, was seitdem geschieht. Das kann eine Art von solidarischem Gedenken sein. Und der Erfolg davon hängt sehr stark davon ab, wie es begangen wird. Ich tue mich momentan jedoch schwer mit Erinnerung, denn: wir befinden uns mitten im Krieg, mitten in der Unsicherheit über die weiteren Entwicklungen, mitten in der Tatsache, dass über hundert Menschen in Geiselhaft sind und Zehntausende seit dem 7. Oktober gestorben sind und auch angesichts der Zahl von 1.200 Toten in Israel am 7. Oktober. Ich erlebe immer wieder Gespräche mit Menschen, die sagen, der 7. Oktober sei nicht abgeschlossen, denn sie lebten ihn jeden Tag. Und ich habe keine Antwort darauf, die zufriedenstellend ist. Da spreche ich aus der eigenen Verzweiflung heraus. Ich habe vorhin von Hoffnung gesprochen, ich habe vorhin von Perspektive gesprochen. Ich glaube, wir und viele der Menschen, mit denen wir hier arbeiten, sind mittlerweile an dem Punkt, wo es ganz schwer ist, die Hoffnung aufrechtzuerhalten. Deshalb, weil das Geschehen auf so vielen Ebenen nicht zu Ende geht.
Das Gespräch fand vor dem Ausbruch des Krieges im Libanon 2024 und den Angriffen des Iran auf Israel statt.