Wenn ich an den 23. August denke, hallen in meinem Kopf sofort die Worte „Bunda jau Baltija“ (Das Baltikum erwacht) [1] wider, und vor meinem inneren Auge erscheint das Porträt meines Urgroßvaters, der 1943 in einem GULAG-Lager starb. Für jemanden, der im unabhängigen Litauen aufgewachsen ist, hat der Schwarze-Band-Tag mehrere Bedeutungen.
In Litauen symbolisiert der 23. August zugleich einen kraftvollen Akt der Befreiung – den Baltischen Weg von 1989 – und das Menetekel von Massenmorden, Repressionen und dem Verlust der Staatlichkeit, das mit Beginn des Zweiten Weltkriegs und dem Ribbentrop-Molotow-Pakt von 1939 seinen Anfang nahm. Seit 2009 trägt der Tag offiziell zwei Bezeichnungen: „Europäischer Gedenktag für die Opfer des Stalinismus und des Nationalsozialismus“ und „Tag des Baltischen Weges“. Er erinnert an die Unterzeichnung des Molotow-Ribbentrop-Pakts (auch als Hitler-Stalin-Pakt bekannt), dessen geheime Zusatzprotokolle Europa zwischen den Interessenssphären des nationalsozialistischen Deutschlands und der Sowjetunion aufteilten.
In den baltischen Staaten wird der Molotow-Ribbentrop-Pakt oft als Schlüsselereignis betrachtet, das die Region in jene „Bloodlands“ verwandelte, von denen Timothy Snyder sprach. In Geschichtsbüchern wird der 23. August als Auslöser für den Beginn des Zweiten Weltkriegs dargestellt – er leitete die nationalsozialistischen und sowjetischen Invasionen in Polen ein, gefolgt von der ersten sowjetischen Besetzung sowie dem Verlust der Unabhängigkeit und Staatlichkeit für Litauen, Lettland und Estland, und ebnete anschließend den Weg für den Holocaust in dieser Region. Die geheimen Zusatzprotokolle, die den Pakt begleiteten, teilten Europa in Einflusssphären auf und verurteilten die baltischen Staaten zu 50 Jahren sowjetischer Besatzung.
Die Annahme der Erklärung des Europäischen Parlaments im Jahr 2008 zur Ausrufung des 23. August als Europäischen Gedenktag für die Opfer des Stalinismus und des Nationalsozialismus sowie eine nachfolgende Resolution zu seiner Umsetzung im Jahr 2009 wurden von vielen Politikern aus Mittel- und Osteuropa sowie ehemaligen antisowjetischen oder antikommunistischen Dissidenten als Erfolg gewertet. Der Fokus auf die Opfer sowohl des Stalinismus als auch des Nationalsozialismus – obwohl umstritten aus der Perspektive der Holocaust-Erinnerung – machte kommunistische Verbrechen und Repressionen, die in vielen öffentlichen Debatten west- und südeuropäischer Ländern lange unbeachtet blieben, sichtbarer.
Allein in Litauen führte die erste sowjetische Besetzung von Juni 1940 bis Juni 1941 zur Massenverhaftung von rund 9.000 Politikern, Beamten, Militär- oder Polizeioffizieren. Der 14. Juni 1941 markierte die erste Massendeportation von etwa 23.000 litauischen Bürgern in GULAG-Lager in der Arktis und Sibirien. Dieser Tag wird als Tag des Gedenkens und der Hoffnung (Gedulo ir vilties diena) begangen. Unter der nationalsozialistischen Besatzung von Juni 1941 bis 1944 wurden nahezu 200.000 litauische Juden – fast 95 % der jüdischen Bevölkerung – von Deutschen und lokalen Kollaborateuren brutal ermordet, wobei etwa 200 Massengräber im litauischen Land verteilt sind. Die zweite sowjetische Besetzung ab 1944 leitete eine jahrzehntelange Phase von bewaffnetem Widerstand und Repressionen ein, die mitunter als „Krieg nach dem Krieg‘”bezeichnet wird. Je nach Schätzung gingen fast 50.000 Menschen in die Wälder, um sich dem bewaffneten antisowjetischen Widerstand anzuschließen oder der Zwangsrekrutierung in die Rote Armee zu entkommen; zwischen 1944 und 1953 kamen mindestens 20.000 ums Leben. Im selben Jahrzehnt verstaatlichten die sowjetischen Behörden den Besitz, zwangen die Bauern zur Kollektivierung und deportierten über 130.000 Menschen – ganze Familien – ohne Rückkehrrecht.
Aus diesem Grund wurde der 23. August in den späten 1980er Jahren zu einem Symbol der Konsolidierung für die litauische Unabhängigkeitsbewegung. 1987 fand in Vilnius die erste öffentliche antisowjetische Demonstration statt. Während die Veranstaltung damals noch klein war und nur von einer Handvoll Dissidenten besucht wurde, entwickelte sich der 50. Jahrestag des Ribbentrop-Molotow-Pakts 1989 zu einem gewaltigen Ereignis: dem „Baltischen Weg“ – einer Menschenkette von über zwei Millionen Menschen, die sich entlang der 670 km langen Strecke von Vilnius über Riga nach Tallinn die Hände reichten.
Das Ereignis war nicht nur ein kraftvoller Ausdruck für das Ausmaß der Ablehnung gegenüber der Sowjetunion und für die Unterstützung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten, sondern auch eine logistische Meisterleistung: organisiert in gut einem Monat, ohne Internet oder Mobiltelefone. Den Bewohnern jeder größeren Stadt oder Region wurde ein bestimmter Kilometerabschnitt entlang der Straße Vilnius–Tallinn zugewiesen, an dem sie sich dem Ereignis anschließen konnten. In jeder Stadt bemühten sich lokale Organisator*innen, Busse und andere Transportmittel bereitzustellen – ein Unterfangen, das zu jener Zeit, als sämtliche Unternehmen dem sowjetischen Staat gehörten, keineswegs selbstverständlich war. Den Tag hindurch informierte das Radio über Staus und freie Plätze entlang der Strecke. Menschen aus allen Landesteilen kamen mit ihren Familien. Die Teilnahme übertraf alle Erwartungen der Organisator*innen: Es bildeten sich kilometerlange Staus entlang der Hauptstraße, und viele erreichten ihren vorgesehenen Platz für die offizielle Gedenkminute um 19 Uhr nicht.
Geschichten über den „Baltischen Weg“ – oft versetzt mit humorvollen Details wie „den richtigen Platz nicht gefunden“ oder „alle Sandwiches schon vor der Ankunft aufgegessen“ – sind fester Bestandteil nostalgischer Familienerzählungen geworden. Für viele ist es mittlerweile fast eine Frage des Stolzes zu sagen: „Ich war auch dabei.“ Bis heute wird das Ereignis – offiziell wie inoffiziell – auf vielfältige Weise gewürdigt: Entlang der Route erinnern zahlreiche Kreuze und Gedenksteine daran, und noch lange nach der Menschenkette fanden und finden jedes Jahr Gedenkveranstaltungen statt. Jedes Jahr zeigen mehrere Dokumentationen das vertraute historische Filmmaterial: kleine Flugzeuge, die Blumen über der Menschenkette verteilten. Und im Baltikum erkennt wohl fast jede*r schon an den ersten Akkorden „Bunda jau Baltija“ (Litauisch) / „Atmostas Baltija“ (Lettisch) / „Ärgake, Baltimaad“ (Estnisch) – Das Baltikum erwacht –, das eigens für dieses Ereignis komponierte dreisprachige Lied. Obwohl die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Litauens, Lettlands und Estlands damals noch keineswegs sicher war, stellte die Demonstration des ‚Baltischen Weges‘ mit ihrer enormen Beteiligung einen Meilenstein der Freiheitsbewegung dar und stärkte die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen in allen drei Staaten. In gewisser Weise hat die jüngere, lebendige und ermutigende Erinnerung an den „Baltischen Weg“ das Gedenken an das tragische Datum zugleich verdrängt und gestärkt – und es so von einem Symbol der Unterwerfung unter brutale politische Regime in ein kraftvolles Zeichen der Befreiung verwandelt.