20. November: Die Hauptkriegsverbrecher-Prozesse beginnen in Nürnberg

Ulrich Schlee

Nach einer symbolischen Eröffnung Mitte Oktober 1945 in Berlin beginnt im Nürnberger Justizpalast der Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs.

Wegen Selbstmord, Unauffindbarkeit oder gesundheitlichen Gründen tauchen von den 24 ursprünglich Angeklagten aus der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Führungsschicht des NS-Regimes nur 21 vor Gericht auf.

Neben der Verschwörung zum Angriffskrieg werden ihnen Verbrechen gegen den Frieden und die Verantwortung für zahlreiche Kriegsverbrechen vorgeworfen.

Entgegen dem in Deutschland verbreiteten Vorwurf, bei den Nürnberger Prozessen handele es sich um „Siegerjustiz“ und „Willkür“, hatte dieser Anklagepunkt sehr wohl eine juristische Grundlage: mit der Genfer Konvention, den Haager Abkommen, der Ächtung von Angriffskriegen durch den Briand-Kellog-Pakt 1928 und nicht zuletzt einem (erfolglosen) Versuch des Leipziger Reichsgerichts, deutsche Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg zu ahnden, waren bereits vor Beginn des Zweiten Weltkrieges Schritte hin zur juristischen Einhegung militärischer Konflikte unternommen worden.

Ein vierter Anklagepunkt umfasste Verbrechen gegen die Menschheit.[1] Dieser Punkt betraf in erster Linie die Massenverbrechen des NS-Regimes im besetzten Europa und an Menschen aus den besetzten Ländern – darunter prominent auch die rassistisch motivierten Untaten. Nicht verhandelt wurden in diesem Zusammenhang Verbrechen, die von Deutschen an Deutschen verübt wurden, also etwa der Terror gegen die politische Opposition.

Der Prozess folgte – was angesichts des Ausmaßes des eben erst zu Ende gegangenen Krieges und der in ihm verübten Verbrechen keineswegs eine Selbstverständlichkeit war – rechtsstaatlichen Prinzipien und Verhandlungsweisen.

Für Nürnberg als Gerichtsort sprach Verschiedenes: Die symbolische Bedeutung als ‚Stadt der Reichsparteitage‘, in deren Rahmen 1935 dort auch die ‚Nürnberger Gesetze‘ beschlossen und verkündet wurden sowie die Vorgeschichte des Justizpalastes als Sitz eines der berüchtigten ‚Sondergerichte‘ spielten eine Rolle. Wichtiger waren aber pragmatische Gründe wie die Lage in der US-amerikanischen Besatzungszone, der angesichts der Kriegszerstörungen gute Zustand des Justizgebäudes und der angeschlossenen Haftanlage und die sich aus beidem ergebenden guten Sicherheitsbedingungen.

An den Hauptkriegsverbrecherprozess, an dessen Ende am 30. September, bzw. 01.Oktober 1945 drei der Angeklagten frei gesprochen, etwa die Hälfte zu Tode und der Rest zu teils lebenslanger Haft verurteilt wurde, schlossen zwischen 1946 und 1949 zwölf Nachfolgeprozesse an. Diese fanden ebenfalls in Nürnberg statt, in dieser Zeit wurden 185 weitere Repräsentanten der deutschen Eliten angeklagt: 39 Ärzte und Juristen (darunter mit Herta Oberheuser die einzige weibliche Angeklagte), 56 SS- und Polizeiangehörige; 26 Militärs, 42 Industrielle und Manager, 22 Minister und Regierungsfunktionäre. .

Dass ein nur relativ kleiner Teil der Täter*innen und Mittäter*innen der deutschen Verbrechen vor Gericht stand, verzögerte nicht nur die weitere gesellschaftliche Aufarbeitung dieser Verbrechen, es ermöglichte dem Rest der jeweiligen Berufsstände (und der ehemaligen Volksgemeinschaft überhaupt) eine Strategie der Exkulpation: Wer nicht zu den Angeklagten gehörte, musste sich scheinbar nicht schuldig fühlen.

Die konkreten und akuten Folgen der Nürnberger Prozesse waren überschaubar:

Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, der Wiederbewaffnungsdebatte und dem Druck der deutschen Öffentlichkeit (an prominenter Stelle der Kirchen und aller Parteien) waren bis Ende der 1950er nahezu alle noch lebenden Verurteilten, sei es aus dem Hauptkriegsverbrecherprozess oder seinen Nachfolgeprozessen, wieder frei und nahmen erneut mitunter führende Rollen in Politik und Wirtschaft ein.

Zwar lag einerseits die längerfristige Zielsetzung der Nürnberger Prozesse durchaus in mehr als der Aburteilung der Hauptschuldigen: So war mit ihnen die Hoffnung verbunden, über die bisherigen Formen von Deklarationen, Verträgen u.ä. hinaus dem Krieg und den Kriegshandlungen künftig Schranken setzen zu können, indem nationale Gesetze und staatliche Ämter künftig nicht mehr vor (völker-)rechtlicher Strafverfolgung schützen würden.

Andererseits hatten die Prozesse für die Verwirklichung dieses Ziels, also für die Entwicklung des internationalen Strafrechts und seiner Institutionen nur wenig reelle Bedeutung. Sie waren – auch dank der Rezeption durch die Weltpresse – zwar ein Entwicklungsschritt in der Entwicklung des Völkerstrafrechts und des internationalen Strafgerichtshofs; auf eine Reduktion oder ‚Zivilisierung‘ der bewaffneten Konflikte wartet die Menschheit aber bis heute vergebens.

Auch für die Aufarbeitung der Geschichte des NS-Regimes und seiner Verbrechen war die Wirkung der Nürnberger Prozesse begrenzt. Zwar waren die Prozesse ein erster größerer Beitrag zur Aufarbeitung der Shoah, es fehlte aber ein Verständnis für den besonderen Charakter dieses Verbrechens. Langfristig waren es andere, spätere Prozesse, die hier einen größeren und tieferen Einfluss auf die Aufarbeitung und das historische Bewusstsein hatten (1961: Eichmann in Jerusalem, 1963: Frankfurter Auschwitzprozess). Dies hatte seine Ursache auch darin, dass nur wenige KZ-Überlebende Zeugnis ablegen konnten.

Auf die deutsche Bevölkerung, die den Prozessen ablehnend gegenüberstand, wirkten sie paradox: Die Abwehr einer nie behaupteten Kollektivschuldthese geriet zur impliziten Behauptung einer kollektiven Unschuld und die prozessuale Fokussierung auf einen recht kleinen Teil verschiedener gesellschaftlicher Eliten erlaubte es dem Rest der deutschen Gesellschaft, sich exkulpiert zu fühlen.

Die lokale Bedeutung in Nürnberg zeigt sich heute v.a. in der Selbstinszenierung der Stadt als „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“ mit einer Reihe kultureller Projekte und Veranstaltung zu Menschenrechts-Themen und dem Betrieb des Memoriums Nürnberger Prozesse.

 

[1] Hannah Arendt wies im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess auf den verharmlosenden Charakter der in diesem Kontext geläufigeren deutschen Übersetzung von „humanity“ mit „Menschlichkeit“ hin.

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