Bruchstelle 8. Mai

Frederek Musall

Geschichte ist nicht dafür da, verdaulich zu sein

Der 8. Mai 1945 markiert das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa. Das ist ein Fakt. Aber die Bedeutungen, die diesem Datum seither zugeschrieben wurden, sind keine festen Wahrheiten – sie sind Narrative, politische, moralische, kulturelle. Und diese Narrative verändern sich.

Der 8. Mai 1945 war und bleibt ein Bruch – nicht nur symbolisch, sondern realgeschichtlich. Der Tag markiert das Zerbrechen eines totalitären Regimes und damit die faktische Möglichkeit eines Neuanfangs, die Öffnung eines historischen Raums, in dem Demokratie wieder denkbar wurde. Gerade heute, da autoritäre Stimmen moderate wie demokratische Diskurse zu übertönen drohen und rechtspopulistische Kampagnen das Fundament demokratischer Erinnerungskultur angreifen, darf dieser Einschnitt nicht relativiert werden. Die Erinnerung an den 8. Mai 1945 ist kein beliebiger Deutungsraum – sie ist ein Prüfstein dafür, ob wir als Gesellschaft bereit sind, die Grundlagen demokratischer Prinzipien zu verteidigen.

Richard von Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1985 gilt vielen als Wendepunkt. Der „Tag der Befreiung“ – so die Formel des ehemaligen Bundespräsidenten – wurde zum Signum einer neuen Erinnerungspolitik. Doch was so klar und versöhnlich klingt, war in seiner Wirkung nicht nur integrativ, sondern auch vereinfachend. Seine Rede setzte nicht den Anfangspunkt, sondern verdichtete eine Entwicklung, die insbesondere durch die Protestbewegung der 1960er und 70er Jahre vorbereitet wurde. Bereits damals hatte die jüngere Generation begonnen, die NS-Vergangenheit ihrer Eltern kritisch zu hinterfragen – konflikthaft, nicht frei von ideologischen Verzerrungen und oft blind für andere Formen von Gewalt, insbesondere für neu erstarkten Antisemitismus. Doch diese Auseinandersetzungen schlugen Risse in die dominante Nachkriegserzählung – Risse, die erst ermöglichten, dass eine Rede wie die Weizsäckers überhaupt gesellschaftlich wirksam werden konnte.

Weizsäcker griff also einen Prozess auf, der längst im Gange war – und überführte ihn in eine Sprache staatlicher Anerkennung. Dabei verschob er den Fokus von der Schuld der Täter hin zur Verantwortung der Nachgeborenen, verbunden mit dem Ton moralischer Selbstvergewisserung. Das klang modern und versöhnlich, war aber zugleich eine Schließung von offenen Wunden: Die „Befreiung“ wurde zur kollektiven Erfahrung erklärt – als ob sie alle gleichermaßen betroffen hätte. Doch wer wurde wirklich befreit? Die politische Elite? Die schweigende Mehrheit? Oder nur jene, die überlebt hatten – oft trotz, nicht wegen der deutschen Gesellschaft?

Diese rhetorische Gleichsetzung ist problematisch. Denn Erinnerung ist keine moralische Belohnung, sie ist eine Zumutung. Wenn sie ernst gemeint ist, irritiert sie, verletzt sie, bleibt sie offen. Weizsäckers Rede war ein Akt nationaler Integration – historisch betrachtet wirksam, aber moralisch unvollständig. Denn sie ließ viele Stimmen aus: Überlebende, Minderheiten, migrantische Perspektiven, linke Kritik, antisemitische Kontinuitäten. Auch heute wird von „Befreiung“ oft gesprochen, als sei sie ein kollektives Erlebnis gewesen. Das war sie nicht.

Der 8. Mai eignet sich nicht für Einigkeit. Das ist kein Mangel, sondern seine historische Bedingung. Er ist nicht anschlussfähig im Sinne einer einheitsstiftenden Erzählung. Und wo er es doch geworden ist, sollte man misstrauisch werden. Denn Einigkeit in der Erinnerung hat ihren Preis: die Reduktion auf das Sagbare, das Aushaltbare, das Kommunikativ-Verwertbare. Doch Geschichte ist nicht dafür da, verdaulich zu sein.

Dieser Tag steht quer zu jeder Vorstellung gemeinsamer Erinnerung. Er versammelt Erfahrungen, die sich nicht verbinden lassen: das Überleben der Verfolgten und das Schweigen der Täterkinder; das Verstummen der Gedemütigten und die Biografien derer, die nach 1945 weitermachten, als sei nichts gewesen. Für manche war es die Öffnung der Lager – für andere der Moment, in dem die Ideologie fiel, aber nicht die Strukturen. Für viele aber war es schlicht ein Tag wie jeder andere.

Eine plurale Erinnerungskultur muss genau hier ansetzen: nicht beim Konsens, sondern bei der Unvereinbarkeit. Erinnern hieße dann nicht, eine gemeinsame Geschichte zu schreiben, sondern anzuerkennen, dass es diese gemeinsame Geschichte nicht gibt – nur sich überschneidende, sich widersprechende, sich ausschließende Perspektiven. Darin liegt kein Defizit, sondern eine Chance: für eine ehrlichere, widerständige Erinnerungskultur.

Denn eine Erinnerung, die alle eint, ist verdächtig – nicht, weil Einigkeit an sich falsch wäre, sondern weil sie häufig durch Ausschluss erkauft wird: durch das Weglassen der Ambivalenz, das Ausblenden der Unpassenden, das Glätten der Brüche.

Geschlossene Narrative wie jenes um den 8. Mai entstehen meist dort, wo Fragen nicht mehr gestellt, sondern Rituale gepflegt werden. Der 8. Mai wird oft als Tag der „gemeinsamen“ Erinnerung inszeniert. Doch diese Inszenierung gerät zunehmend ins Wanken.

Die postmigrantische Gesellschaft markiert eine Herausforderung für bestehende Erinnerungskulturen – nicht als Identitätspolitik, sondern als demokratische Nachfrage: Wer ist dieses „Wir“? Wer gehört dazu? Und wer bleibt außen vor – nicht weil er will, sondern weil er nie mitgedacht wurde? Was bedeuten diese Narrative für eine Gesellschaft, die längst mehr ist als die eine Nachkriegsbiografie? Was heißt das für jene, die nach Deutschland kamen – oder hier geboren wurden –, darunter auch Nachkommen von Menschen aus kolonialisierten Regionen, deren Geschichte und Erfahrungen bislang kaum Teil des nationalen Gedächtnisses sind? Ihre Erfahrungen stehen selten im Zentrum des Gedenkens. Meist nur dann, wenn sie sich einfügen lassen – als Beleg gelungener Integration. Doch sie bringen eigene Fragen mit, eigene Spannungen, eigene Brüche, die längst nicht nur ergänzen, sondern die Art, wie wir erinnern, grundlegend herausfordern.

Gerade in dieser Perspektive zeigt sich ein tiefgreifender Wandel: Es geht längst nicht mehr nur um die Frage, wie ein gemeinsames Erinnern möglich wäre – sondern ob es dieses Bedürfnis nach Gemeinsamkeit überhaupt noch gibt. Was heute sichtbar wird, ist vielmehr ein neues Bedürfnis: das Andere zur Geltung kommen zu lassen – nicht als beiläufige Ergänzung zum Bestehenden, sondern als eigenständiger Beitrag, der die Art, wie wir erinnern, herausfordert. Das ist kein Zerfall des Erinnerns, sondern Ausdruck einer lebendigen, streitbaren Erinnerungskultur – und womöglich der eigentliche demokratische Schritt.

In Gedenkveranstaltungen, in Schulbüchern, in Reden dominiert oft die Stimme der Nachgeborenen der Tätergesellschaft. Doch das ist nicht die ganze Gesellschaft – und auch nicht die einzige Form, sich zur Geschichte zu verhalten.

Vergessen werden dabei oft auch jene Stimmen, die aus dem Exil zurückblickten – so etwa Fritz von Unruh, dessen eindringliche Rede „An die Deutschen“ von 1948 Gewissen, Verantwortung und moralische Erneuerung einforderte. Heute ist seine Stimme weitgehend aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden, obwohl (oder gerade weil) sie unbequem blieb. Die Herausforderungen, die migrantische und postkoloniale Perspektiven heute an die Erinnerungskultur stellen, knüpfen damit an ein älteres Problem an: Wer wird gehört – und wer bleibt außen vor?

Solche Vergessensprozesse werfen eine grundsätzliche Frage auf: Für wen funktioniert Erinnerung überhaupt? Sie setzt Zugehörigkeit voraus – oder fordert sie ein. Doch viele wurden nicht gefragt, ob sie dazugehören wollen, sondern sind in eine Geschichte hineingeworfen worden, die nie die ihre war. Eine plurale Erinnerungskultur muss genau das ernst nehmen.

Der 8. Mai wäre ein geeigneter Moment, diese Unruhe sichtbar zu machen. Nicht, um alles zu dekonstruieren, sondern um rechten Geschichtsentwürfen entgegenzutreten, die Differenz für Schwäche und Pluralität für Zerfall halten. Der Anspruch auf eine streitbare Erinnerung ist kein Rückzug, sondern der demokratische Kern. Es geht nicht um das Ende des Erinnerns – sondern um seine Öffnung.

Denn eine plurale Erinnerungskultur bedeutet nicht, möglichst viele Stimmen nebeneinanderzustellen. Sie bedeutet, die Spannungen zwischen ihnen anzuerkennen, ohne sie vorschnell aufzulösen. Erinnern heißt dann nicht, sich zu versöhnen, sondern offen zu bleiben für das, was sich der Versöhnung entzieht – und genau diese Offenheit als Stärke und als Realität einer diversen Gesellschaft zu begreifen.

Oft wird dabei auf die Idee einer multidirektionalen Erinnerung verwiesen: dass unterschiedliche historische Erfahrungen miteinander in Beziehung treten, sich gegenseitig beleuchten, einander infrage stellen. Doch selbst wenn wir dieses Modell ernst nehmen, bleibt eine zentrale Frage: Was bedeutet das für das Erinnern heute? Unter den Bedingungen der Gegenwart werden letztlich alle zu Betroffenen. Die Gegenwart fordert uns heraus, Geschichte nicht nur nebeneinander, sondern auch miteinander zu denken – und zwar als geteilte Verantwortung in einer ungeteilten Gegenwart.

Deshalb darf der 8. Mai keine versöhnende Geste sein. Er muss stören – gerade dort, wo man ihn zum Symbol nationaler Einigung machen will. Er kann ein Ort sein, an dem nicht nur gesprochen, sondern auch geschwiegen wird, weil sich manches nicht in Worte fassen lässt, ohne es zu glätten.

Wenn wir den 8. Mai ernst nehmen, dann als offene Bruchstelle. Ein Tag, der nicht abgeschlossen werden kann, weil das, was er markiert, nicht abgeschlossen ist: Faschismus, Gewalt, Ausgrenzung. Erinnern heißt dann nicht, bloß aus der Vergangenheit zu lernen. Es heißt: sich der Gegenwart zu stellen – einer Gegenwart, in der das Erinnern selbst umkämpft ist, und in der sich zeigt, ob Demokratie mehr ist als nur ein symbolisches Versprechen.

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