Beginn der Auschwitz Prozesse

Andrea Hanna Hünniger

Der Ausgangspunkt des ersten Auschwitz Prozesses war im Frühjahr 1958 die private Anzeige eines ehemaligen Häftlings gegen den früheren Angehörigen der Politischen Abteilung des Lagers, SS-Oberscharführer Wilhelm Boger. In Auschwitz war Boger in seiner Funktion als „Referent für Fluchtsachen und Nachrichtendienst“ an Misshandlungen beim Verhör von Häftlingen beteiligt gewesen. Mit Hilfe von Hermann Langbein, dem Generalsekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees, gelang es der zuständigen Stuttgarter Staatsanwaltschaft, mehrere Zeug*innen für ein Strafverfahren gegen Boger ausfindig zu machen. In der Folge beschäftigte sich parallel zu den Stuttgarter Vorermittlungen die neu eingerichtete Zentrale Stelle in Ludwigsburg mit dem Fall Boger und weitete ihn auf weitere Angehörige des KZ-Lagerpersonals aus.

Der zweite Teil der Vorgeschichte des Auschwitz-Prozesses ereignete sich in Hessen. Im Januar 1959 gelangten Original-Schreiben der Kommandantur von Auschwitz-Birkenau in die Hände des Hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer. Die Dokumente blieben erhalten, weil sie im Frühjahr 1945 von dem den KZ-Überlebenden Emil Wulkan aus einem brennenden Gerichtsgebäude in Breslau gerettet worden waren. Wulkan war mittlerweile Mitglied des Gemeinderates der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main. Zusammen mit einer von einem früheren Häftling zusammengestellten Liste mit den Namen von Angehörigen des Lagerpersonals dienten die Dokumente Generalstaatsanwalt Fritz Bauer als Grundlage für die Beantragung eines Zuständigkeitsbeschlusses beim Bundesgerichtshof. Hier entschieden die Richter am 17. April 1954 „die Untersuchung und Entscheidung in der Strafsache gegen die früheren Angehörigen der Kommandantur des Konzentrationslagers Auschwitz“ dem Landgericht Frankfurt am Main zu übertragen. Bauer konnte daraufhin zwei Ermittler der Frankfurter Staatsanwaltschaft mit der Vorbereitung eines umfassenden Strafverfahrens beauftragen.

Als der erste große Auschwitz-Prozess am 20. Dezember 1963 eröffnet wurde, saß Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in der ersten Reihe des Sitzungssaals im Frankfurter Römer, hinter ihm hing ein großer Lageplan mit den Baracken und Einrichtungen des Lagers. Verhandelt wurde gegen 22 Männer, unter ihnen Robert Mulka, der Adjutant und Vertreter des Lagerkommandanten Rudolf Höß, der 1947 in Polen zum Tode verurteilt worden war.

Die Bedeutung des Prozesses lag und liegt zunächst einmal darin, dass er überhaupt zustande kam. Denn die Deutschen wollten nicht nur einen Schlussstrich – in hohen Ämtern sowie im Bundeskriminalamt saßen NS-Täter, sogar ehemalige SS-Mitglieder. Bauer hatte Gutachten in Auftrag gegeben, die den NS-Machtapparat analysierten, er hatte Zeug*innen auftreten lassen, die das Leiden und Sterben im Lager so eindringlich beschrieben, dass auch die Richter bisweilen um Fassung ringen mussten. Fritz Bauer hatte in Frankfurt eine landesweit arbeitende Behörde mit fast 200 Staatsanwälten und Assessoren unter sich. Zudem besaß er das Vertrauen des hessischen Ministerpräsidenten Georg August Zinn, der Bauer zum Chefermittler des Bundeslandes gemacht hatte. Zinn, Jurist und Sozialdemokrat wie Bauer, wollte Hessen zu einem modernen, liberalen Gegenentwurf der Adenauer-Republik machen. Mehrfach verteidigte er seinen Generalstaatsanwalt gegen Angriffe.

Durch umfangreiche Berichte in der Presse war Auschwitz zum Thema in einer Öffentlichkeit geworden, die mehrheitlich am liebsten einen Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen hätte. Viele junge Leute und Student*innen fingen nun an, nach der Rolle ihrer Eltern während des Naziregimes zu fragen.

Von den Urteilen, die Mitte 1965 nach 183 Verhandlungstagen gesprochen wurden, war Bauer gleichwohl enttäuscht. Zwar gab es sechs Verurteilungen zu lebenslangen Haftstrafen wegen vielfachen Mordes. Zehn Angeklagte wurden vom Gericht aber nur als „Gehilfen“ eingestuft, darunter auch Mulka. Er kam mit 14 Jahren Freiheitsstrafe wegen Beihilfe zum Mord davon.

Bauer hatte dafür gekämpft, dass die Beteiligung an der Mordmaschinerie zu einer Verurteilung wegen Mordes führen sollte – auch wenn nicht nachzuweisen sei, dass ein Angeklagter mit eigenen Händen einen Menschen getötet habe. Er konnte sich nicht durchsetzen. Aber er gab nicht auf; der zweite Frankfurter Auschwitz-Prozess gegen drei weitere Angeklagte begann nur wenige Monate nach dem Urteil.

Auf Zeitgenoss*innen und Beobachter*innen wirkte Bauer in dieser Zeit oft deprimiert und niedergeschlagen. Die Angriffe auf ihn nahmen zu, nicht nur aus der Richterschaft und der Justiz, wo seine Rechtsauffassung kritisiert wurde. Auch konservative Politiker nahmen den Frankfurter Ermittler zunehmend ins Visier. Alfred Dregger, der spätere hessische CDU-Vorsitzende, sprach Bauer im hessischen Landtag die Befähigung ab, Generalstaatsanwalt zu sein. Zudem erhielt Bauer Morddrohungen. „Wenn ich mein Büro verlasse, befinde ich mich im feindlichen Ausland“, wurde er später von einer Kollegin zitiert.

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