12. April: Slowjansk und der Beginn der russischen Invasion in der Ukraine

Igor Mitchnik

Denys Bihunow erinnert sich noch heute, als wäre es gestern gewesen: Am Morgen des 12. April 2014 besetzte eine Gruppe maskierter, schwerbewaffneter Männer unter der Führung des russischen Staatsbürgers Igor Girkin (Kampfname „Strelkov“) eine Polizeizentrale und weitere Gebäude in Slowjansk. Unmittelbar danach wurden Straßensperren errichtet. Bereits am folgenden Tag gerieten ukrainische Spezialeinheiten auf dem Weg in die Stadt in einen Hinterhalt. Ein Offizier des Sicherheitsdienstes SBU kam ums Leben, mehrere weitere wurden verletzt.

„Das System der Ukraine war damals noch tief von pro-russischen Strukturen durchzogen“, erinnert sich Bihunow. „Wir saßen mit meinem Kollegen im Rathaus und sahen den völligen Zusammenbruch: Nichts funktionierte mehr. Uns war klar, dass das, was sich vor unseren Augen abspielte, falsch und ungerecht war.“

In Kyjiw herrschte zu dieser Zeit, kurz nach dem Sturz des pro-russischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, politischer Ausnahmezustand. Übergangspräsident Oleksandr Turtschynow rief angesichts der Ereignisse eine „Antiterror-Operation“ aus. So wurde die Besatzung von Slowjansk zum Auftakt des Krieges im Osten der Ukraine.

Slowjansk wurde zur ersten besetzten Bastion russischer Offiziere und ihrer separatistischen Unterstützer in der Region Donezk. Von hier aus proklamierte Girkin die „Volksrepublik Donezk“ und forderte offen die Abspaltung. Die Ereignisse waren jedoch keineswegs ein spontaner „Volksaufstand“, wie es die russische Propaganda darstellte. Zwar hatte es seit März 2014 pro-russische Proteste in Teilen der Ost- und Südostukraine gegeben, befeuert durch massive Desinformation russischer Medien – deren Wirkung blieb jedoch begrenzt. Erst das Auftreten professionell geführter, von Russland kontrollierter Kampfverbände veränderte die Lage.

Girkin, ein russischer Kriegsveteran mit Einsatzerfahrungen in Transnistrien, Tschetschenien und auf dem Balkan sowie engen Verbindungen zum russischen Sicherheitsapparat, war bereits an der Annexion der Krim beteiligt gewesen. Bis 2013 hatte er für den russischen Inlandsgeheimdienst FSB gearbeitet. Seine Präsenz in Slowjansk und die Finanzierung durch kremlnahe Kreise machten die direkte Steuerung der Ereignisse in den Regionen Donezk und Luhansk durch Russland unübersehbar.

Für die Bevölkerung von Slowjansk bedeuteten die 85 Tage Besatzung Ausnahmezustand, Willkür und Terror. Das SBU-Gebäude im Stadtzentrum wurde zu einem Ort systematischer illegaler Haft und Folter. Zivilist*innen wurden verschleppt. Oft reichte schon der bloße Verdacht, sie könnten mit der ukrainischen Armee kooperieren oder pro-ukrainische Ansichten vertreten. Binnen weniger Wochen entstanden mehr als zwanzig militärische Stellungen in Schulen, Krankenhäusern und Kirchen. Checkpoints mit Maschinengewehren, Luftabwehrsystemen und Panzerfäusten blockierten Straßen und hielten selbst Rettungsdienste auf.

Ab Anfang Mai verschärfte sich die Kriegsdynamik deutlich. Sowohl die Besatzer als auch die ukrainische Armee setzten zunehmend schwere Artillerie ein. Die Stadtverwaltung dokumentierte mehr als 240 beschädigte oder zerstörte Wohnblocks. Fast 5.700 Wohnungen waren betroffen. Wasser-, Strom- und Gasversorgung brachen zusammen; viele Familien flohen oder lebten in Notunterkünften.

Zeitzeugin Lidia Khaustowa beschreibt den Juni 2014 als unerträglich: „Der Beschuss wurde immer stärker. Ich konnte nicht mehr schlafen, die Wände bebten. Mein Vater entschied, dass wir fliehen mussten. Wohin, wussten wir nicht, denn es gab keinen Handyempfang mehr.“

Auch Kateryna Pasikowa erinnert sich an diese Zeit: „In den Läden gab es kaum noch Lebensmittel, es fehlte an Wasser, Strom und Gas. Handys funktionierten nur noch auf einem Hügel außerhalb der Stadt. Doch dorthin zu gelangen, war extrem gefährlich.“

Zugleich entstanden überall in der Stadt illegale Haftorte – auch im Gebäude der Stadtverwaltung, wo Bihunow bis 2014 gearbeitet hatte. Für das Buch The City Where the War Began berichtet er, wie er im Juni 2014 Zugang zu seinem alten Büro erhielt: „Ich fand ein mit Klebeband zusammengebundenes Handtuch in Form eines Gesichts, zwei verdreckte Matratzen und verbarrikadierte Fenster. Eindeutige Spuren einer Geiselnahme.“

Am 5. Juli 2014 gelang es der ukrainischen Armee, die Besatzer zu vertreiben. Girkin und seine Kämpfer zogen sich nach Donezk zurück, das bis heute unter russischer Kontrolle steht. Bereits am Folgetag begannen Teams des ukrainischen Katastrophenschutzes, die Stadt von Minen, Granaten und Sprengfallen zu räumen. Viele Verwaltungsgebäude, Keller und Schulen waren so stark vermint, dass sie nicht entschärft, sondern gesprengt werden mussten.

Heute wissen wir: Die Bedeutung der Ereignisse reicht weit über Slowjansk hinaus. Hier entstand die Blaupause des hybriden Krieges, der die Ukraine bis heute prägt: verdeckte militärische Intervention, begleitet von massiver Desinformation sowie Terror gegen die Zivilbevölkerung und gegen zivilgesellschaftlichen Widerstand. In den Folgejahren flossen erhebliche nationale und internationale Mittel in den Wiederaufbau und die demokratische Stabilisierung der ukrainisch kontrollierten Teile der Regionen Donezk und Luhansk – eine Entwicklung, die Russland gezielt zu untergraben versuchte.

Gerade der sichtbare demokratische Fortschritt in Slowjansk und anderen Städten der Regionen Donezk und Luhansk nach 2014 bedrohte das autoritäre, stalinistisch geprägte Modell Russlands. Ein Modell, das sowohl in den besetzten Gebieten als auch in Russland selbst verfestigt werden sollte.

Am 24. Februar 2022 eskalierte diese Aggression schließlich in eine landesweite Vollinvasion – nach einem Muster, das bereits im Frühjahr 2014 in Slowjansk erprobt worden war.

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