Eine wesentliche Fragestellung der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs kontextualisiert, nämlich: Wie soll man mit dem Erbe der Shoah umgehen? Und wie soll eine gerechte und menschliche Welt aussehen? Während sich ein Großteil der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland in der Nachkriegszeit in eine romantisierende Heimatatmosphäre des Vergessens drängte, war der Widerstand gegen dieses Vergessen zumeist ein Kampf von Einzelkämpfer*innen oder Graswurzelbewegungen.
Mehr als nur erwähnenswert war der Einsatz zum Beispiel von Roma-Aktivist*innen wie Romani Rose, der sich vehement für die Anerkennung und Aufarbeitung des Genozids an den Romn*ja einsetzte. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma trug dazu bei, dass sich Infrastrukturen und fluid organisierte Bewegungen herausbildeten, die sich für die Errichtung von Denkmälern und die Dokumentation der Verbrechen einsetzten. Parallel dazu spielte in der Homosexuellenbewegung der Filmemacher und Aktivist Rosa von Praunheim mit seinem Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ eine maßgebliche Rolle zur Entstigmatisierung und Entkriminalisierung von Homosexualität. Ebenso kämpften Überlebende und Angehörige von Menschen mit Behinderungen gegen das Vergessen der „Aktion T4“, dem Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten, das Tausende von Menschen mit Behinderungen ermordete. Die Einrichtung des Gedenkorts Tiergartenstraße 4 in Berlin erinnert an diese Opfer und stellt einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung dar. Und im jüdischen Widerstand der Nachkriegszeit spielten Simon Wiesenthal und Leo Baeck wesentliche Rollen. Wiesenthal widmete sein Leben der Jagd auf NS-Kriegsverbrecher und der Erinnerung an die Shoah, während Baeck eine zentrale Rolle bei der Reorganisation der jüdischen Communities in Deutschland nach dem Krieg übernahm.
Diese einzelnen Beispiele, welche selbst ganze Bibliotheken an Wissen um zivilgesellschaftliches Engagement, Abhandlungen um Verantwortung und Gerechtigkeit sowie Herangehensweisen an Ästhetik füllen würden, verdeutlichen, inwiefern der Kampf um Erinnerung und Gerechtigkeit von Einzelpersonen und Bewegungen getragen wurde. Aus der Perspektive der deutschen Mehrheitsgesellschaft fanden ein Aufarbeiten und Erinnern in der frühen Nachkriegszeit jedoch kaum statt. Die Erinnerung an Widerstand fokussierte sich dann oft nur auf Vertreter*innen der eigenen Mehrheitsgesellschaft, wie Stauffenberg oder die „Weiße Rose“, oder auf das Narrativ der Studentenbewegung, die gegen das Vergessen kämpfte. Somit war auch das Erinnern nicht wirklich von Vielfalt und Solidarität geprägt, auch wenn die sogenannte Studentenbewegung diverser ausgeprägt war, als man sich dies eingestehen möchte. Dies war beispielsweise in den Protesten gegen den Besuch des Schah ersichtlich, in denen es Verbindungen im Protest zwischen deutschen und iranischen Student*innen gab.
Erst durch die Ereignisse im Rahmen einer global und international vernetzten Welt – wobei hier im Kontext zwischen der vernetzten Welt des Kalten Krieges gesprochen werden muss, da es auch vehemente Trennungen und Kommunikationsbarrieren zwischen den jeweiligen Blöcken gab – wurde die Idee einer Welt in Vielfalt präsenter. In der Hochzeit von antikolonialen Widerstandskämpfen und Unabhängigkeitsbestrebungen, teils im Namen der internationalen Solidarität oder als Ausprägungen neuer Nationalismen, sowie durch Bürgerrechtsbewegungen in Kanada und den USA, wurde deutlich, dass die Anerkennung einer immer diverser ausdifferenzierten Welt von außerordentlicher Wichtigkeit sein würde.
Als Reaktion auf die Bürgerrechtsbewegungen in den USA in den 1960er Jahren wurden beispielsweise Maßnahmen zur Chancengleichheit für marginalisierte Gruppen implementiert. Der Civil Rights Act von 1964 und der Voting Rights Act von 1965 sollten wesentliche Formen der rechtlichen Diskriminierung beseitigen. Allerdings muss man leider bis heute feststellen, dass Rassismus und Diskriminierung in den USA bei weitem noch nicht abgeschafft sind.
Während in den USA die Prozesse um Migration und Einwanderung anders verlaufen sind und hier das Selbstverständnis eines Einwanderungslandes vorliegt, hat sich die Bundesrepublik Deutschland sehr schwer mit der Idee getan, sich als Einwanderungsland und als eine multiperspektivische Demokratie zu verstehen. Zwei Bundeskanzler Deutschlands mit dem Vornamen Helmut, nämlich Helmut Schmidt und Helmut Kohl, verneinten die Anerkennung der Bundesrepublik als Einwanderungsland.
Auch die Welle eines neu wiedergefundenen Nationalismus am Ende des Kalten Krieges und eines neuen „wiedervereinten“ Deutschlands führte dazu, dass zwei verlorene Jahrzehnte entstanden sind, in denen sich die Bundesrepublik nicht mit den notwendigen Transformationen einer Migrationsgesellschaft oder einer Gesellschaft in Diversität beschäftigte. Erst gegen Ende der 1990er Jahre begann die Bundesregierung, sich ernsthaft mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Mit dem Eingeständnis im Jahr 2005, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, kam es zu einem entscheidenden Schritt zum Wandel in der politischen und gesellschaftlichen Haltung.
Damit einhergehend entstand auch die Frage nach dem Zelebrieren oder der Ritualisierung dieses neuen Selbstverständnisses. Die Wochen gegen Rassismus, Tage der Vielfalt oder auch der Solidarität, die jedoch nirgendwo in Deutschland offizielle Feiertage sind, sind zaghafte Versuche, die Anerkennung und Akzeptanz einer diversen Gesellschaft zu fördern. Diese Initiativen können jedoch auch als Ausdruck einer neuen Welle internationaler „Multi-Kulti-Romantik“ verstanden werden, in der man lieber die „bunte“ Gesellschaft in „Vielfalt“ feiert, anstatt nachhaltige Maßnahmen gegen Rassismus, Antisemitismus, Diskriminierung und für Gleichberechtigung zu implementieren. Die Kehrseite: Dabei werden indiskutable „Hard Facts“ der postmigrantischen Einwanderungsgesellschaft geschaffen.
Gleichzeitig stellt sich die Frage, inwiefern sich die nationale Identität transformiert, wenn sie sich nicht mehr alleine auf Homogenität stützen kann. Momentan scheint diese Auseinandersetzung von zwei unterschiedlichen Positionen getragen zu werden. Auf der einen Seite kristallisieren sich Einzelpersonen, Graswurzelbewegungen und einzelne Strukturen heraus, die gegen Rassismus, Diskriminierung und für ein allgemeines Bleiberecht kämpfen. Gleichzeitig formieren sich rechte Gegenbewegungen, vielleicht als Backlash, sowohl in Deutschland als auch global gesehen.
Welche Positionen sich in diesem Transformationsprozess als nachhaltig erweisen und welche potenziellen Hybridisierungen sich dabei herauskristallisieren, wird sich erst in der Gegenwart oder auch in der Zukunft herausstellen. Fakt ist jedoch: Der soziale und politische Kampf um die Frage, wie und ob die Gesellschaft eines Tages in Vielfalt und menschlicher Solidarität existieren wird, ist unumkehrbar ausgebrochen.