Tag der Deutschen Einheit

Anlässlich des diesjährigen Jahrestags der deutschen Wiedervereinigung sprach Frank-Walter Steinmeier davon, dass die ostdeutsche Geschichte stärker Teil der gesamtdeutschen Geschichte werden müsse. Es gehe nach Steinmeier zudem um das Gefühl, gleichwertig zu sein und das nicht nur im materiellen Sinne. Die Einkommensungleichheit zwischen Ost und West scheint mit Blick auf die Feierlichkeiten des 3. Oktober in den vergangenen Jahren ein fortwährendes zentrales Thema zu sein. Hinsichtlich der sozialen Ungleichheit zwischen Ost und West ist das begrüßenswert, da viele darin auch eine der Hauptursachen für die hohe Zustimmung der Alternative für Deutschland (AfD) in den neuen Bundesländern sehen. Abgesehen davon sollte jedoch auch die offizielle deutschen Erinnerungskultur hinsichtlich der Erfolge der AfD in die Verantwortung genommen werden, da blinde Flecken bezüglich der Gewaltgeschichte Deutschlands in den letzten 30 bis 40 Jahre eine Normalisierung der rechtsextremen AfD, die sich kontinuierlich antisemitischen Codes bedient, begünstigen. Eine kritische Revision des Mainstreamnarrativs der deutschen Wiedervereinigung, die migrantische sowie jüdische Erfahrungen in die Erzählung aufnehmen, ist dabei längst im Gange. Allerdings sind diese Perspektiven noch weit davon entfernt, ein bedeutender Teil der offiziellen Erinnerungskultur zu werden.

Die Chronologie der neonazistischen Gewalt, die die migrantische und jüdische Erfahrung der Wiedervereinigung prägte, beginnt zwar bereits vor der deutschen Wiedervereinigung, doch stellen die Gewalttaten um den ersten Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung 1991 einen Höhepunkt dar: Bei einem Brandanschlag in Hünxe auf eine Unterkunft für Geflüchtete etwa wurden drei Kinder aus dem Libanon schwer verletzt. In Krefeld wurde ein 47-jähriger Mann türkischer Herkunft auf offener Straße erstochen. Zahlreiche von Migrant*innen bewohnte Unterkünfte wurden im Herbst 1991 angegriffen, allein im Oktober 1991 wurden über 150 Brandanschläge gezählt. Meinungsforschungsumfragen ab 1989, die von den Soziologen Werner Bergmann und Rainer Erb gesammelt und 1991 veröffentlicht wurden, belegen zudem den Fortbestand antisemitischer Ressentiments, negativer Einstellungen gegenüber Jüdinnen*Juden sowie den zunehmenden Wunsch, einen Schlussstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit zu ziehen.[15]

Laut dem Historiker Janosch Steuwer wurden im November 1989, als die Mauer fiel und die Berliner*innen nach Kreuzberg und Neukölln an die nun offene Mauer strömten und damit durch jene Stadtteile zogen, die sich mit ihrer bisherigen Randlage zu stark migrantisch geprägten Vierteln entwickelt hatten[16], die migrantischen und andere Stadtbewohner*innen nach Hause geschickt, weil diese Feier der Deutschen nicht ihre Party sei.[17]

In der Nacht der ersten Feierlichkeiten anlässlich der Wiedervereinigung am 2. und 3. Oktober 1990 kam es zu zahlreichen Gewaltexzessen, bewaffnete Neonazis griffen Migrant*innen, Vertragsarbeiter*innen und Linke an. Die Website zweiteroktober90 (https://zweiteroktober90.de/) dokumentiert über 30 Angriffe in dieser Nacht, bei denen mindestens 1.500 Neonazis beteiligt waren. Auffällig ist dabei unter anderem, dass in vielen Fällen die Polizei erst später einschritt. Es grenzt demnach fast an ein Wunder, dass dabei niemand ums Leben kam.

Ferner ist festzuhalten, dass die deutsche Wiedervereinigung auch einen Paradigmenwechsel im Umgang mit dem Nationalsozialismus zur Folge hatte. Laut dem Historiker Frank Stern rückte ab 1991 zunehmend die kommunistische Gewaltherrschaft ins Zentrum öffentlicher Vergangenheitsdiskurse. Dies führte nach Stern zu einer Verschiebung des historischen Bewusstseins hinsichtlich nationalsozialistischer Verbrechen und zu einer Erneuerung des Nationalismus in Deutschland.[18]

Die Feierlichkeiten anlässlich der deutschen Wiedervereinigung sind ein beeindruckendes Beispiel für das Verdrängen spezifischer Aspekte der Vergangenheit innerhalb der deutschen Erinnerungskultur. Indem das Narrativ der Friedlichen Revolution und Wiedervereinigung stets in den Vordergrund offizieller Erinnerungspraktiken gestellt wird, mangelt es an öffentlichkeitswirksamen, kritischen Reflexionen über die Wiedervereinigung. Die Erfahrungen der deutschen Wiedervereinigung von Migrant*innen, Vetragsarbeiter*innen, Geflüchteten, Linken sowie Jüdinnen*Juden müssen daher uneingeschränkt in die deutsche Erinnerungskultur aufgenommen werden, um das historische Bewusstsein für die jüngste Gewaltgeschichte und die Kontinuität antisemitischer Ressentiments zu stärken.

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